Sonntag, 16. September 2007

Rezension von Michael Sterzik - Tod eines Dissidenten

Seit den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA hat sich unsere damalig scheinbar mehr oder weniger friedliche Welt dramatisch und drastisch verändert. Der Terrorismus zeigte ein für uns bis dato völlig unbekanntes Gesicht und bewies, dass jede Nation angreifbar und verletzbar ist. Die Geheimdienste in aller Welt bekamen von ihren Regierungen mehr Freiheiten zugesagt und sind aufgefordert, den Terror mit aller Macht zu unterwandern und zu zerstören.

Nicht nur seit der CIA-Affäre um geheime Gefängnisse, Folterungen und Tötungen hat man das Gefühl, der Kalte Krieg trete wieder ans Tageslicht. Terrormeldungen gehen wöchentlich um die Welt; Anschläge auf zivile Einrichtungen in London und Madrid erschreckten uns ebenso wie die geführten Kriege im Irak und Afghanistan und ihre Folgeerscheinungen.

Im Zeitalter der hochtechnisierten Kommunikationsmöglichkeiten haben es die Geheimdienste schwerer und zugleich oftmals durch deren Manipulation leichter. Die Medien sind überall und berichten uns aus allen Perspektiven und kommunikativen Filtern über die (Un-)Wahrheiten der Regierungen, die Maßnahmen von Politik und Militär.Doch auch die Meinungs- und Pressefreiheit wird selbst in demokratischen Staaten gesetzlich eingeschränkt und staatlich stärker kontrolliert. Journalisten und ehemalige Geheimdienstmitarbeiter stehen, sofern sie nicht der inneren Ordnung und Meinung des Staates konform reagieren und berichten, persönlichen und existenziellen Gefahren gegenüber. Es wird eingeschüchtert, bedroht, intrigiert und in wenigen bekannt gewordenen Fällen ist die letzte Alternative die gezielte Tötung des Kritikers.

Die (Geheim-)Dienste der Staaten greifen nicht immer zu legalen Mitteln in ihrem Feldzug gegen den Terror, aber wer kontrolliert sie in der letzten politischen Instanz? Wer gibt für gezielte Entführungen, Folterungen und Mordaufträge den Befehl? Wer übernimmt die Verantwortung in einem sogenannten Rechtsstaat, der die Grundrechte der Menschen vertreten soll? Wer umgeht und wie umgeht man die Gesetze, um die Bevölkerung, die Zivilisation zu beschützen, auch wenn man in Gefahr gerät, sich auf illegalem Terrain bewegen zu müssen?Der Terror, so ist uns klargeworden, hat ganz verschiedene Gesichter und nicht nur die Freiheitskämpfer, die einer bestimmten Ideologie folgen und für andere nur als Terroristen gelten, handeln kriminell und menschenrechtsverachtend. In den letzten Jahren gab es gerade in Russland unter der Regentschaft des Präsidenten Wladimir Putin merkwürdige Situationen.

Zum einen wurden die Tschetschenen als Terroristen verurteilt und ein zweiter Krieg begann, zum anderen hatten die westlichen Staaten das deutliche Gefühl, dass Russland sich entgegen der gewünschten und versprochenen Reformen zweifelhaft verhielt.Zuerst klang die Meldung im vergangenen November völlig absurd. Auf einen russischen, ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter sollte ein Giftanschlag in einer Londoner Sushi-Bar verübt worden sein. Alexander (genannt Sascha) Litwinenko verstarb an den Folgen dieser Vergiftung am 23. November des Jahres 2006 auf schreckliche Art und Weise. Das Gift war eine Miniatur-Atombombe – Polonium-210 – radioaktiv, unsichtbar, geschmacklos, farblos, aber vielleicht der tödlichste und grausamste uns bekannte Stoff.

Seine Witwe Marina Litwinenko und sein Freund Alex Goldfarb stellen in dem Buch "Tod eines Dissidenten" die Person Alexander "Sascha" Litwinenkos vor, der unerschütterlich seinem Glauben, seiner Moral und seinem Gewissen entschlossen folgte. Die StoryAlexander (Sascha) Litwinenkos eigentliche Familie war die russische Armee. Erzogen wurde Sascha bei seinem Großvater. Der leibliche Vater diente bis zu seiner Entlassung selbst bei dem russischen Militär. Als dieser entlassen wurde, war Sascha 17 Jahre alt und konnte sich mit den neuen Verhältnissen innerhalb der Familie nicht abfinden. Sascha fühlte sich immer wie ein Außenseiter und trat mit 18 Jahren selbst in den Armeedienst ein. Der Militärdienst gefiel Sascha Litwinenko, denn hier gab es feste Regeln und er war von jeher ein ausgezeichneter Teamplayer. Innerhalb der Militärzeit wurde der junge Mann von dem berüchtigten Geheimdienst KGB rekrutiert.

Von nun an war die "kontora", die Firma, seine Gegenwart und Zukunft. Von der dunklen Vergangenheit des KGB, vom Gulag und den Abermillionen Opfern erfuhr er erst viel später in den Neunzigerjahren, als erste Berichte darüber in den nationalen und internationalen Medien auftauchten. Aus dem KGB wurde dann die spätere Nachfolgeorganisation FSB.Anfangs arbeitete Sascha für die Wirtschaftssicherheit und schließlich für das Antiterrorzentrum. Sein Hauptaufgabengebiet wurde die Bekämpfung des organisierten Verbrechens und die Aufgabenbereiche gegen Attentate, Entführungen und Korruption bei der Polizei. Sascha arbeitete in der operativen Aufklärung. Er legte geheime Akten über Mafiosi an und überwachte deren Privatleben. Er tauchte in ihr Netzwerk ein, mitsamt den Kontakten zu politischen Institutionen und Geschäften. Für die offiziellen Ermittler waren Saschas Kenntnisse unersetzlich. Er arbeitete still und effektiv hinter den Kulissen, rekrutierte Agenten und organisierte deren Einsätze. Sascha ging förmlich auf in seiner gefährlichen Arbeit und hatte eine hohe moralische Grundvorstellung und Überzeugung von seiner Tätigkeit als Agent.

1993 lernte er durch Freunde seine später Ehefrau Marina Litwinenko kennen, während seine erste Ehe im Begriff war zu scheitern. Marina Litwinenko wurde nicht nur seine Ehefrau, sondern auch der Mittelpunkt seines Lebens. Schon im gleichen Jahr wurde Marina schwanger und gebar ihren einzigen Sohn Tolik. Sascha trennte seine oftmals gefährliche Tätigkeit streng von seinem Privatleben und teilte seine Erlebnisse nicht oft mit seiner Frau. Sie gab ihm die nötige Kraft, Außerordentliches zu leisten und aus der Beziehung Kraft zu schöpfen.

Im ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) wurden die Agenten des FSB zu Kampfeinsätzen befohlen; auch Sascha war an mehreren Kampfeinsätzen beteiligt. Später wurde Sascha kritischer in seiner Tätigkeit als verdeckter Ermittler und Agent des Geheimdienstes. Auf der innerpolitischen Bühne versuchte man immer wieder, den Geheimdienst für ganz individuelle Ideen und Geschäfte zu nutzen, und das geschah oftmals illegal und überhaupt nicht mit den Gesetzen im Einklang. Im Jahr 1998 fand eine legendäre Pressekonferenz in Moskau statt, in der Alexander Litwinenko zusammen mit Michail Trepaschkin und zwei maskierten Agenten die Führung des Geheimdienstes FSB für die Anstiftung zum gezielten Mord am damaligen Sekretär des Staatsicherheitsrats, Boris Beresowski, verantwortlich machte - ein bisher noch nie dagewesenes Ereignis und in den Augen der geheimdienstlichen Behörde eine verräterische Tat.

Ein Jahr später wurde Sascha das erste Mal verhaftet und wenig später in dem Verfahren freigesprochen, doch noch im Gerichtssaal wurden ihm ein zweites Mal verschiedene Sachverhalte vorgeworfen, was zu seiner zweiten Verhaftung führte, aus der er im Jahre 2000 entlassen wurde. Den Worten Alexander Litwinenkos nach wurden die Anschuldigen konstruiert und bei der Haftentlassung wurde ihm die Auflage erteilt, die Russische Föderation nicht zu verlassen. Er fühlte sich und seine Familie jedoch unmittelbar durch den FSB bedroht, und so blieb ihm nur die einzige Möglichkeit, im gleichen Jahr illegal nach London auszureisen. Mit seiner Frau und seinen Sohn erreichte Alexander Litwinenko am 1. November 2000 die Hauptstadt von England und beantragte sofort politisches Asyl, das ihm und seiner Familie schließlich auch im Mai 2001 offiziell gewährt wurde.

In England befasste sich Litwinenko weiterhin mit der innerpolitischen Situation, dem Krieg in Tschetschenien und der Rolle des staatlichen russischen Geheimdienstes. Er schrieb verschiedene Bücher über diese Thematik und finanzierte sein Leben durch die enge Freundschaft mit Boris Beresowski, der ebenfalls nach Großbritannien ausgewandert war.Zusammen mit einem amerikanischen Historiker russischer Herkunft verfasste Litwinenko das Buch "Blowing up Russia: Terror from within" ("Der FSB sprengt Russland in die Luft"). Hierin übten die Autoren scharfe Kritik an der russischen Regierung und dem Geheimdienst.Laut der Theorie und den Vermutungen Litwinenkos behauptete dieser, dass die Sprengstoffanschläge von 1999 auf Wohnhäuser in Moskau nicht auf terroristische Akte von tschetschenischen Rebellen zurückzuführen seien, sondern direkt auf das Konto des Geheimdienstes gingen, der gezielt diese Anschläge ausführte, um einen zweiten Tschetschenienkrieg entfesseln zu können.

Der Befehl für diese Attentate solle direkt von Präsident Putin gekommen sein ,der ebenfalls als Leutnant beim KGB diente. Es gab in Russland noch eine ganze Reihe von Menschen, die die gleiche These aufgestellt haben und mit Litwinenko einer Meinung waren. Mysteriöserweise kamen viele Mitglieder dieses Gremiums ums Leben. Eine weitere These ist, dass die Geiselnahme im Moskauer Theater ebenso eine Aktion des Geheimdienstes FSB gewesen sein solle und die Terroristen zwar wirklich tschetschenischer Abstammung waren, aber bei der Erstürmung des Theaters, obwohl schon kampfunfähig, durch Einheiten der FSB exekutiert wurden. Aus welchem Grund? Im Oktober 2006 wurde die auch international bekannte Journalistin Anna Politkowskaja kaltblütig durch Killer in Russland erschossen. Bekannt wurde sie durch ihre Kritik an der russischen Regierung und ihrer Kriegsführung in Tschetschenien. Litwinenko sollte Kontakt mit ihr gehabt und Unterlagen bekommen haben, die den russischen Geheimdienst arg diskreditieren.

Am 1. November ließ sich Litwinenko mit Vergiftungserscheinungen in ein Londoner Krankenhaus einweisen. Sein Zustand verschlechterte sich rasend, und schließlich verstarb er an den Folgen dieser Vergiftung. Wenige Stunden vor seinem Tod erklärte Litwinenko in einem Interview mit der Times, dass er vom Kreml zum Schweigen gebracht wurde, und gab Putin die Schuld an seinem Tod. KritikIch habe den Fall und das Schicksal Alexander Litwinenkos im letzten wie auch in diesem Jahr intensiv in den verschiedenen Medien verfolgt. Die russische Politik ist für uns Europäer sicherlich nicht transparent genug; zum einen werden in den Medien die innenpolitischen Probleme dieses großen Landes nur angerissen und nicht wirklich gut genug erklärt, um sich ein Urteil darüber bilden zu können, zum anderen gab und gibt es sicherlich Themen, die zum Zeitpunkt für uns interessanter sind und waren. Die Meinungs- und Pressefreiheit ist in Russland mehr als nur stark eingeschränkt. Es ist kein Geheimnis, dass Kritiker der Regierung getötet worden sind oder merkwürdigen Unfällen zum Opfer fielen.

Es gab eine ganze Reihe von Opfern, die zuvor offen Kritik am Regime geübt hatten: Journalisten, Geschäftsleute, Abgeordnete und sogar Veteranen des Tschetschenienkrieges - und immer führte die Spur zum russischen Geheimdienst FSB. Das Buch "Tod eines Dissidenten" wird sicherlich niemals auf den russischen Literaturlisten erscheinen und nur über Umwege das Land erreichen. Litwinenkos Frau Marina und sein Freund Alex Goldfarb führen den waffenlosen Kampf gegen das Regime in Russland mit friedlichen Mitteln für Sascha weiter. Die Geschichte des Ex-Agenten, der aufgrund seiner moralischen Vorstellungen ins Exil gehen musste und zu einem der schärfsten Putin-Kritiker wurde, war ungemein spannend und interessant zu lesen. Leben und Schicksal des jungen Mannes werden detailreich geschildert, und nicht nur das. Vielmehr wird die innen- und außenpolitische Lage Russlands analysiert, denn ohne diese Rückblicke könnten wir den mit Saschas Werdegang verbundenen Verschwörungstheorien nicht folgen.

Russlands Strategie in den beiden Kriegen in Tschetschenien ist ebenso ein wichtiges Thema wie die Korruption und die illegalen Aktionen des Geheimdienstes FSB, auch die Machtergreifung und die Entwicklung Putins spielen eine sehr große und nicht zu unterschätzende Rolle. In "Tod eines Dissidenten" kommt uns Alexander Litwinenko nicht wie ein Phantast vor oder jemand, der aus seiner Publicity Kapital schlagen wollte. Seine Theorien konnte er zwar abschließend nicht beweisen, aber sie werfen doch interessante Fragen auf. Allein die Attentate auf die Moskauer Wohnhäuser erfordern eine Logistik, eine Organisation, die für tschetschenische Terroristen einfach zu durchdacht und überlegt ist. Außerdem widersprach sich der Geheimdienst in seinen offiziellen Statements zu sehr, um noch glaubhaft zu wirken. Zeugen verschwinden entweder spurlos oder fallen Unfällen zum Opfer, Journalisten werden eingeschüchtert und Agenten zu verschiedenen Aktionen erpresst. Natürlich stellt dieses Buch nur eine einseitige Berichtserstattung dar, und ich glaube auch nicht, dass Litwinenko in seiner Tätigkeit als Agent der FSB nur auf Seiten des Gesetzes stand, doch wirken seine Theorien im Ganzen glaubhaft und stimmig, zumal es auffallend ruhig um die offiziellen Ermittlung der im Buch erklärten Theorien geworden ist. Auch nur ein Zufall?

Nach der Lektüre von "Tod eines Dissidenten" stellen sich Fragen, auf die sich schwerlich Antworten finden lassen. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn es gibt keine handfesten Beweise für die Thesen, die der Ex-Agent aufgestellt hat, nur Indizien und viel zu viele Tote in seinem unmittelbaren Umfeld – es bleiben nur Theorien übrig, aber die sind schon Grund genug, um hinter den Spiegel schauen zu wollen.Wer hatte Interesse am Tod des Ex-Geheimdienstlers? War es ein Racheakt von Kriminellen oder steckte doch der Geheimdienst hinter seinem Tod? Was wusste Litwinenko über den Tod der bekannten Journalistin und wo sind ihre und seine Dokumente geblieben bzw. die Erklärungen von Zeugen, die beweisen sollten, dass der Geheimdienst hinter den Anschlägen auf die Moskauer Wohnhäuser steckt und noch Drahtzieher und Vollstrecker bei verschiedenen Morden gewesen sein soll?

Sehr gefallen hat mir im Übrigen der Aufbau bzw. die Gliederung des Buches, angefangen bei der Ausbildung und dem Aufstieg der Person Litwinenkos, bis hin zu seinen Gewissensbissen und der Entscheidung, offen Kritik gegenüber Putin und seiner Regierung zu üben. Weder ist das Buch langweilig, noch verrennen sich die beiden Autoren in Widersprüche. Wie bei allen Verschwörungstheorien bleibt die eigentliche Wahrheit jedoch im Dunkeln und eine Frage des Betrachtungswinkels. Doch auch hier kann es nur die Zeit zeigen und vielleicht der Mut einzelner Menschen, um letztlich und schließlich die Wahrheit zu finden, wie immer diese auch aussehen mag.

Fazit: Für Freunde von Verschwörungstheorien in Geheimdienstkreisen ist das Buch "Tod eines Dissidenten" sehr zu empfehlen. Nicht überzeichnet oder unlogisch, nicht spektakulär oder widersprüchlich, sondern ernüchternd und Fragen aufwerfend. Das Buch bzw. die Aussagen darin kritisieren die russische Regierung und nicht das Volk im Gesamten, es ist kein Spiegelbild der Denk- und Lebensweise einer ganzen Bevölkerung, und das war für die Botschaft des Buches existenziell wichtig. Wer das Schicksal von Alexander Litwinenko in der Presse verfolgt hat, wird das Buch schwerlich aus der Hand legen und in seinen Alltag zurückkehren können. Der aufmerksame Leser wird sich mit der Thematik auseinandersetzen und manches vielleicht noch kritischer sehen und hinterfragen, was Alexander Litwinenko sicherlich erfreut hätte.

Die Autoren: Marina Litwinenko begegnete ihrem späteren Ehemann erstmals 1993 an ihrem 31. Geburtstag. 2000 wurde der Familie politisches Asyl in Großbritannien gewährt und 2006 die britische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Marina Litwinenko und ihr zwölfjähriger Sohn leben in London.Alex Goldfarb, regimekritischer Naturwissenschaftler, verließ Russland in den siebziger Jahren. Er arbeitete an der Columbia University, beendete seine wissenschaftliche Laufbahn jedoch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und leitete zusammen mit George Soros humanitäre Initiativen in Russland. Er lernte Alexander Litwinenko in den neunziger Jahren kennen, und sie wurden enge Freunde, als Goldfarb den Ex-Spion und seine Familie 2000 auf der dramatischen Flucht nach England begleitete. Später arbeitete er mit Litwinenko an dessen Memoiren und politischen Artikeln. Goldfarb ist verantwortlicher Leiter der von Boris Beresowski gegründeten International Foundation for Civil Liberties, einer Dachorganisation für Menschenrechtsaktivisten.

http://www.hoffmann-und-campe.de/

Michael Sterzik



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