Montag, 22. Juli 2024

Vermisst - Der Fall Anna - Christine Brand


In vielen Polizeidienststellen stapeln sich ungelöste Kriminalfälle - so genannte „Cold Cases“. Viele von ihnen sind in die Jahre gekommen und liegen teilweise seit Jahrzehnten in verstaubten Regalen und Schränken. Es gibt Abteilungen, die sich immer wieder mit Begeisterung und Motivation diesen historischen Verbrechen widmen - mit sehr unterschiedlichem Erfolg. 

Nicht zuletzt der technische Fortschritt, nicht nur neue Verfahren und Mittel in der Ermittlungstechnik, sondern auch im medizinischen Bereich der Analytik gab und gibt es Quantensprünge, die den Tatort oder den Tathergang in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen können.

Für die Angehörigen der Opfer bringt die Aufklärung des Falles Seelenfrieden und vielleicht auch Gerechtigkeit, sofern der Täter noch ermittelt werden kann. Auch für die Ermittler, die sich vielleicht jahrelang mit diesem komplexen Fall beschäftigt haben, wird es eine menschliche Erleichterung sein, diesen Fall abgeschlossen zu haben. 

Diese Cold Case - Geschichten werden inzwischen fast inflationär von vielen Krimi- und Thrillerautoren aufgegriffen. „True Crime“ - die wahren Verbrechen sind morbide, faszinierend und spannend und garantieren unterhaltsame Lesestunden. 

Christine Brand - Die Gerichtsreporterin und Bestsellerautorin aus der Schweiz greift in ihrem neuesten Roman „Vermisst“ einen historischen Kriminalfall auf.

Malou Löwenberg ist Kommissarin beim Morddezernat und ein Findelkind. Als sie Dario kennenlernt, ist sie von seiner Geschichte fasziniert: Darios Mutter verschwand an seinem fünften Geburtstag spurlos. Obwohl alles dagegenspricht, glaubt er, dass seine Mutter noch lebt. An ihre eigene Geschichte erinnert, beginnt Malou zu ermitteln. Sie stößt auf immer mehr Vermisstenfälle: Alle Frauen verschwanden am fünften Geburtstag ihrer Kinder und alle Kinder erhalten ebenso wie Dario bis heute mysteriöse Geburtstagskarten …(Verlagsinfo) 

Die Geschichte spielt in der Schweiz und ist wohl der Auftakt zu einer neuen Serie. 
Spannend ist der Roman - aber dass die Ermittlerin wieder einmal persönlich in den Fall verwickelt ist, ist schon ein wenig haarsträubend. Unterhaltsam ja - aber unglaubwürdig, auch wenn das Leben offensichtlich die besten Krimis schreibt. 

Eine Reihe von Vermissten, die möglicherweise auf das Konto eines Serienmörders gehen, der makabre Botschaften an Kinder schickt? Eine Kommissarin, die sich auf eine schräge Beziehung einlässt, die ebenfalls ohne Eltern aufgewachsen ist und nun die Scherben ihrer privaten und beruflichen Herausforderungen aufsammeln und sortieren will?

Natürlich geht es auch um Emotionen. Die Frage, ob die eigene Mutter noch lebt, der Verlust, die offenen Fragen, das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein - all diese Gefühle werden in die Figur des Dario implantiert. Aber auch die zweite Hauptfigur - Malou Löwenberg - rennt ihrer Vergangenheit hinterher und versucht über ihren demenzkranken Vater mehr über ihre Herkunft zu erfahren. 

So nehmen auch diverse Nebengeschichten viel Raum ein. Sie drängen die Haupthandlung nicht in den Hintergrund. Aber natürlich verlängern sie den Umfang des Romans ungemein. Christine Brand verbindet diese Elemente auf grandiose Weise, so dass, wenn man von Unterhaltung sprechen will, diese nicht geschmälert wird.

„Vermisst“ ist auf jeden Fall ein sehr unterhaltsamer Krimi und am Ende des Romans gibt es schon einen logischen Ausblick auf die kommende Handlung. Atmosphärisch interessant - manchmal nicht unbedingt logisch und die Hands-on-Mentalität von Malou übergreifend auch nicht als realistische Ermittlungsarbeit zu bezeichnen. 

Fazit

Ein spannender Krimi - der noch viel Luft nach oben hat. Ich empfehle dringend, die privaten Herausforderungen der Ermittler nicht immer in die Haupthandlung einfließen zu lassen. „True Crime„ schön und gut - „Real Life“ dann eher eine Räuberpistole. 

Michael Sterzik

Sonntag, 16. Juni 2024

Nachtwasser - Camilla Läckberg / Henrik Fexeus


Kann man Menschen lesen? Die Körpersprache zeigt sich nicht unbedingt von ihrer kryptischen Seite. Gestik, Mimik, Körperhaltung - dazu kommen Rhetorik, Betonung und diverse Körperfunktionen, die man im Grunde nicht bewusst steuern kann. Mit viel Training ist es möglich, auch hier eine „Maske“ aufzusetzen - aber das ist unsagbar schwer.

Theatralik und die hohe Kunst der Illusion und gegebenenfalls Zaubertricks, die auch technisch raffiniert ausgeführt werden können, gehören ebenfalls zum Handwerk des Mentalisten. Diese Kunst ist verblüffend - nichts Übernatürliches - nichts Paranormales - und doch beeindruckend.

Die Theorie, dass ein „Mentalist“ mit der Polizei zusammenarbeitet, um zum Beispiel bei einem Verhör als Beobachter und Berater zu fungieren, ist gar nicht so weit hergeholt, und es würde mich nicht wundern, wenn die Polizei auf die Talente von Mentalisten zurückgreifen würde.

Der schwedische Justizminister wird bedroht. Zur selben Zeit wird in den Stockholmer U-Bahn-Tunneln ein Haufen menschlicher Knochen gefunden. Das Skelett gehört einem hochrangigen Finanzier. Mina Dabiri und ihr Team beginnen nach Zusammenhängen zu suchen und ziehen den Mentalisten Vincent Walder zur Hilfe. Die Uhr tickt. Doch für Vincent, der mit Bedrohungen gegen seine Familie zu kämpfen hat, macht es den Anschein, als würde die ganze Welt auf ihn zurasen. Durch einen weiteren Knochenfund in den U-Bahn-Tunneln wird das Team endgültig auf die Probe gestellt - was geht in den Tiefen Stockholms vor sich? Und wer ist hinter dem Minister her? Für Mina und Vincent beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit … (Verlagsinfo) 

Der dritte und vielleicht letzte Band ist vielleicht der schwächste der Reihe, und zwar aus dem einfachen Grund, dass weniger Rätsel und weniger Symbolik in die Handlung eingebaut wurden. 

Wie schon in den beiden vorangegangenen Bänden wird das Privatleben von Mina und Vincent in die Haupthandlung eingeflochten. Das ist zwar spannend, aber es hätte der Geschichte besser getan, wenn ihre privaten Probleme nicht immer in die Handlung eingeflossen wären. Das ist eine sehr künstliche Konstruktion, die überhaupt nicht authentisch wirkt.

Nachtwasser" ist von der ersten bis zur letzten Seite spannend. Gerade das Ende ist bittersüß, originell und polarisierend. Psychologisch raffiniert und zutiefst einfühlsam sind die Figuren angelegt. Vor allem Vincent ist der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der ganzen Trilogie. Seine Figur sollte unbedingt in einer weiteren Serie wieder aufgenommen werden.

Fazit

Der Stimmungsseismograph schlägt bei Betrachtung der gesamten Reihe immer positiv aus und gehört zu den besten skandinavischen Krimis der Gegenwart. Die Serie ist an Originalität kaum zu überbieten. Unbedingte Leseempfehlung.


Michael Sterzik

Samstag, 1. Juni 2024

Stay away from Gretchen - eine unmögliche Liebe. von Susanne Abel


Deutschland im Zweiten Weltkrieg - ein totaler Krieg, der auch unter der Zivilbevölkerung viele Opfer forderte. Bombenangriffe der Alliierten, Flucht und Vertreibung, aber auch Verfolgung und Vernichtung durch das totalitäre NS-System. Für viele Familien bedeutete die Nachkriegszeit den Aufbau einer völlig neuen Existenz. Hunger und Wohnungsnot, traumatisierte Soldaten, die ihre Erlebnisse aus der Kriegsgefangenschaft nicht verarbeiten konnten. Der lange Wiederaufbau für ein kleines Stück Glück. Die Entstehung der Bundesrepublik, aber auch in dieser Nachkriegszeit wurde das Thema soziale Ausgrenzung zu einer düsteren Grundstimmung in der Bevölkerung.

Susanne Abel greift in ihrem Roman viele Themen auf, deren Echo mit den Jahren zwar leiser geworden, aber noch lange nicht verstummt ist. „Stay away from Grechen - Eine unmögliche Liebe ist eine sehr einfühlsame und hoch emotionale Geschichte, die uns die Herausforderungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg drastisch vor Augen führt.

Der bekannte Kölner Nachrichtenmoderator Tom Monderath macht sich Sorgen um seine 84-jährige Mutter Greta, die immer mehr vergisst. Als die Diagnose Demenz im Raum steht, ist Tom entsetzt. Bis die Krankheit seiner Mutter zu einem Geschenk wird: Erstmals erzählt Greta aus ihrem Leben – von ihrer Kindheit in Ostpreußen, den geliebten Großeltern, der Flucht vor den russischen Soldaten im eisigen Winter und ihrer Zeit im besetzten Heidelberg. Als Tom jedoch auf das Foto eines kleinen Mädchens mit dunkler Haut stößt, verstummt Greta. Zum ersten Mal beginnt Tom, sich eingehender mit der Vergangenheit seiner Mutter zu befassen. Nicht nur, um endlich ihre Traurigkeit zu verstehen. Es geht auch um sein eigenes Glück.(Verlagsinfo) 

Die Geschichte gliedert sich in einen Blick auf die Gegenwart, in der Tom Monderath und seine Mutter Gretchen sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Diese Rückblenden spielen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und in der Nachkriegszeit.

Im Mittelpunkt des Romans steht der Rassismus, der sich in diesem Werk in vielfältiger Weise manifestiert. Gretchens Liebe zu einem afroamerikanischen Soldaten in Heidelberg führt zu einem Kind. Gretchen wird als Ami-Flittchen und Negerhure beschimpft, verliert das Sorgerecht und ihre kleine Tochter wird als Adoptivkind in die USA "abgeschoben". Diese braunen Babys kamen tatsächlich in die USA, die deutsche Gesellschaft hatte wenig Platz und noch weniger Geduld für nicht arische Kinder. Es ist leider nicht zu glauben, aber es ist eine Tatsache.

Die Autorin geht aber noch weiter und erzählt auch vom Rassenhass, der den afroamerikanischen Soldaten auch in der Armee entgegenschlägt, aber auch von einer Freiheit im besetzten Deutschland. Sie werden zwar stigmatisiert, genießen aber in der Besatzungszone Freiheiten, die sie in den Vereinigten Staaten niemals hätten genießen können.

Auch die zum Zeitpunkt der Handlung aktuellen Themen wie die Flüchtlingspolitik, Angela Merkel und ihr Statement dazu, aber auch die Ablehnung von Menschen, die vertrieben wurden, greift Susanne gekonnt und stilsicher auf. Alles in allem handelt es sich um einen Roman, der sehr politische und gesellschaftliche Themen aufgreift - und das auf eine sehr einfühlsame und spannende Art und Weise. Aber auch der Humor kommt nicht zu kurz und sogar die Herausforderungen, die eine Demenz und die Alzheimer-Krankheit im Alter mit sich bringen, werden thematisiert. Die Herausforderungen, mit denen die Hauptfigur Tom Monderath konfrontiert wird, führen dazu, dass er sein bisheriges und zukünftiges Leben aus einer anderen Perspektive betrachtet und sich völlig neu aufstellt. So führt eine Krise am Ende doch noch zu etwas Gutem - auch wenn der Weg dorthin alles andere als einfach ist.

Ich bin überrascht und fasziniert von der Feinheit der Dialoge, die die Autorin in diesem Buch zu schildern vermag. Zwischen Drama und Selbstfindung erzählt Susanne Abel eine historische Geschichte mit Gegenwartsbezug, die man lesen muss.

Fazit

Jedes Kapitel geht unter die Haut - das Jonglieren mit vielen Emotionen wird von ihr so selbstverständlich und authentisch erzählt - dass man dieses Buch auf jeden Fall gelesen haben muss.


Michael Sterzik

Samstag, 25. Mai 2024

Blutstunde - Thomas Enger / Jorn Lier Horst


Als Kriminalbeamter gerät man unter Umständen schnell zwischen die Fronten von Recht und Gesetz - oder Gerechtigkeit und einer idealisierten Moralvorstellung - und damit auf sehr dünnes Eis. 

In der aktuellen Kriminalliteratur sind die Hauptfiguren, meist die Ermittler, persönlich involviert. Vielleicht aus Rache, oder der Täter sieht im Ermittler einen intellektuellen Duellanten - mit der Realität haben diese schicksalhaften Begegnungen sicher wenig zu tun. Aber darum geht es ja auch nicht - der Leser will unterhalten werden. 

Mit dem vorliegenden Band „Blutstunde“ beschreiten die beiden Protagonisten Alexander Blix und Emma Ramm völlig neue Wege. Ein Polizist und eine Journalistin, die gemeinsam als Duo unkonventionell und originell ermitteln - diese Idee ist im Grunde nicht neu - aber die beiden Autoren waren bzw. sind durch ihre Berufe als leitender Kriminalbeamter und Journalist positiv vorbelastet. Ihre beiden Erfahrungen spiegeln sich einfach authentisch in der Ermittlungsarbeit und einer journalistischen Tätigkeit unbedingt wieder. Das mag in dieser Geschichte etwas weit hergeholt erscheinen. Nichtsdestotrotz gehört diese norwegische Krimiserie zu den interessantesten, die in den letzten Jahren erschienen sind. 

„Blutstunde“ knüpft direkt an die Ereignisse des vierten Bandes an. Daher ist bereits an dieser Stelle eine Empfehlung zur chronologischen Lektüre der Reihe auszusprechen, da sonst das Verständnis für manche Entwicklungen und Motivationen der Protagonisten nicht möglich ist.
Zwei Monate sind vergangen, seit Alexander Blix vom Vorwurf des vorsätzlichen Mordes freigesprochen wurde. Doch sein Leben liegt in Trümmern: Er kann nie wieder als Polizist arbeiten und fühlt sich, als würde ihn jemand auf Schritt und Tritt verfolgen. Dann wendet sich Blix' dementer Vater an ihn, weil dieser glaubt, jemand versuche, ihn zu vergiften. Aber Blix, der keinen Kontakt zu seinem Vater haben will, weigert sich, die Ermittlung aufzunehmen, zumal die Polizei Oslo ihn immer noch für einen Mörder hält. Zum Glück steht Emma Ramm fest an seiner Seite – und zusammen schließen die beiden einen Cold Case, der nicht nur Blix' Familie betrifft, sondern die dunkelsten Seiten eines Verbrechers hervorbringt. (Verlagsinfo) 

Zurück auf „Null“ - eine völlige Neuorientierung, die dem ehemaligen Kriminalbeamten Blix, der ein erfolgreicher Ermittler, aber auch ein schwieriger Mensch war, alles abverlangt. Auch sein Privatleben liegt nach dem Tod seiner Tochter in Trümmern. Seine Vergangenheit und Familiengeschichte wird hier authentisch und emotional erzählt, ohne ins Klischeehafte abzugleiten. 

Obwohl es sich um den fünften Band dieser großartigen Reihe handelt, wird der sechste Band einen Neuanfang darstellen. Eine private/berufliche Mini-Revolution der beiden Charaktere - die zwar beruflich mehr oder weniger gezwungenermaßen einen Schritt zurück machen - aber nur um kurz darauf festzustellen - dass sie eigentlich zwei Schritte nach vorne gemacht haben. 
Die privaten Herausforderungen, die hier beschrieben werden, sind zwar nice to know, sollten aber in einem eventuellen Nachfolgeband keine Rolle spielen. 

Fazit 

Der skandinavische Krimi ist vielfältig, insgesamt auch gut - aber diese Reihe ist eine Perle in diesem umkämpften, aber spannenden Genre. Ein großes Lob gebührt dem Autorenduo, das uns in eine sehr originelle Krimiwelt eintauchen lässt. 

Michael Sterzik

Montag, 20. Mai 2024

Der Märtyrer - Anthony Ryan (Hörbuch)


Zufälle oder Schicksale - wie werden aus einfachen Menschen Helden, die über sich hinauswachsen und sich Aufgaben stellen müssen, bei denen sie sich am Ende immer fragen: Warum gerade ich?

Das kann im Guten wie im Schlechten geschehen. Nicht jede Last ist ein Fest für diesen Menschen, nicht jede Verantwortung gewollt, nicht jede Entscheidung bewusst getroffen. Gibt es am Ende eine göttliche Bestimmung, der wir nicht ausweichen können, weil dieser Weg einfach vorgezeichnet ist?

Manche Karrieren sind zu phantastisch, und es sind gerade die einfachen Menschen, die nicht vorbelastet sind, die der Geschichte eine ganz neue, nachhaltige Richtung geben können. Der Schwung des Schicksals - vielleicht kann man ihm wirklich nicht ausweichen.
Im ersten Band dieser großartigen Reihe von Anthony Ryan – Der Paria – wird ein junger Gesetzloser zur Schlüsselgestalt in einem Bürgerkrieg. Seine Laufbahn endet im ersten Band als Schreiber und Vertrauter einer fast schon heiligen Person, die er allerdings mitgeholfen hat zu erschaffen….eine insgesamt verflixte Situation.

Nun ist der zweite Band: „Der Märtyrer“ von Anthony Ryan erschienen und knüpft unmittelbar an die Ereignisse des ersten Bandes an.

Die Zeiten haben sich für Alwyn Scribe geändert. Einst war er ein Geächteter, jetzt ist er Spion und ein eingeschworener Beschützer von Lady Evadine Courlain. Ihre Visionen einer dämonischen Apokalypse verliehen ihr die fanatische Ergebenheit der Gläubigen. Doch Evadines wachsender Ruhm hat sie in Konflikt mit der Krone und dem Bund gebracht und im Königreich brauen sich gefährliche Unruhen zusammen...
Als Alwyn ins Herzogtum Alundia geschickt wird, um eine Rebellion niederzuschlagen, muss er sich auf alte Instinkte verlassen, um für seine neue Sache zu kämpfen. Alwyn Scribe war nie dazu bestimmt, Soldat zu sein. Ein Dieb? Ja. Ein Schreiber? Ganz gewiss. Aber ein Soldat? Diese Rolle scheint zu seinem Albtraum zu werden. Tödliche Fehden und uralte Geheimnisse werden aufgedeckt, als der Krieg ausbricht, ein Krieg, der über das Schicksal des Königreichs Albermaine entscheiden und vielleicht die Ankunft der prophezeiten Zweiten großen Plage verhindern wird.(Verlagsinfo)

Das Hörbuch - gesprochen von Detlef Bierstedt ist großartig. Der Sprecher erschafft eine grandiose Atmospähre, der man sich nicht entziehen kann. Spannungsmomente werden sprachlich gekonnt betont, genauso verhält es bei emotionalen Dialogen, die es viele in diesem Titel gibt. 

Die Spannung ist ungebrochen. Die Protagonisten sind dieselben, aber ihre Gewichtung ist unterschiedlich. In „Der Märtyrer“ konzentriert sich die Handlung ganz auf Alwyn, der weniger Schreiber als vielmehr Soldat mit riskanten Spezialaufträgen wird. Doch mit diesem Karriereschritt ist sein Weg noch lange nicht zu Ende.

Seine charakterliche Entwicklung ist ebenso spannend wie die Geschichte selbst. Er wird härter, rücksichtsloser und auch einsamer. Wie im ersten Band gerät er in Gefangenschaft, die sich aber am Ende als Glücksfall erweist.

Es wird auch etwas Mystisch in diesem Band, aber wir sind weit davon entfernt, dass uns der Autor mit phantastischen, magischen Elementen und nichtmenschlichen Wesen konfrontiert.
Spannung wird auch durch die zahlreichen Schlachten erzeugt. Und dieses „Game of Thrones“ steht der erfolgreichen Fernsehserie in Sachen konsequenter und kompromissloser Brutalität in nichts nach.

Atmosphärisch zieht dieser Roman den Leser voll in seinen Bann und lässt ihn nicht mehr los. Erzählerische Längen gibt es nicht und vorhersehbar ist die Geschichte auch nicht unbedingt. Überzeugend und authentisch wie sie ist, könnte sie auch nicht in einer fiktiven Welt spielen, sondern durchaus in einer historischen Epoche - z.B. dem Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich - stattgefunden haben.

Die Geschichte erzählt auch nicht von einer heilen Welt. Ein Bürgerkrieg ist immer grausam, die Zivilbevölkerung bleibt nicht verschont und letztlich werden die Machtansprüche der verschiedenen Fraktionen auch durch eine gewisse Religiosität gestärkt. Und für den Glauben wurde schon immer gerne getötet und gestorben.

Ich bin gespannt, wie diese Serie ausgeht. Alles ist offen und ich vermute, dass dem Leser ein bitter-süßes Ende präsentiert wird.

Fazit

Das ist Fantasy vom Feinsten. Spannende, nachhaltige Unterhaltung, die einen völlig in ihren Bann zieht. Eine Geschichte, von der man nicht genug bekommen kann.
Michael Sterzik



Montag, 6. Mai 2024

Die Dämmerung - Marc Raabe


Kann man seine Vergangenheit ausblenden, sie vielleicht ignorieren, so dass man historische Ereignisse aus seinem Gedächtnisprotokoll in die ganz tiefe Schublade seiner persönlichsten Gedanken verbannt? Am liebsten vergisst man dann auch noch den Schlüssel zu diesen Schlüsselerlebnissen. Verdrängung kann wunderbar sein, funktioniert aber meistens nur halb so gut.

Die Vergangenheit holt einen dennoch ein, und das oftmals in einer so direkten Konfrontation, dass ein Ausweichen nicht möglich ist. Ein Exit ausgeschlossen und getreu Augen zu und durch, auch das ist oftmals nur ein frommer Wunsch. 

Der Kölner Autor Marc Raabe setzt seine Art-Mayer-Reihe mit dem vorliegenden Titel „Die Dämmerung“ fort. Mit von der Partie sind viele bekannte Figuren, denen man bereits im ersten Band „Hallo“ sagen durfte. Auch die ganz persönlichen Herausforderungen der beiden Ermittler bekommen ihre Bühne.

Im Königswald wird eine bizarr arrangierte Leiche gefunden, halb Mensch, halb Tier. Art Mayer und Nele Tschaikowski identifizieren die Tote als Charlotte Tempel – eine gefeierte Wohltäterin, bei allen beliebt und für den wichtigsten Medienpreis des Landes nominiert. Schnell gerät Tempels einundzwanzigjährige Tochter unter Verdacht: Leo ist rebellisch, unberechenbar und zeichnet ein ganz anderes Bild ihrer Mutter. Doch Art Mayer zweifelt an ihrer Schuld.
Bis eine zweite Frau aus dem Kreis der Nominierten stirbt. Zunächst deutet nichts auf Leo, doch dann taucht ein mysteriöses Tonband mit belastendem Inhalt auf. Wer ist Leo – ein Opfer der Umstände? Oder die jüngste Serientäterin von Berlin, unterwegs zu ihrem dritten Opfer?(Verlagsinfo) 

Die beiden Ermittler Nele Tschaikowski und Art Mayer können getrost als Antihelden bezeichnet werden. Die Art und Weise, wie sie ihre Ermittlungen führen, ist nach den Grundsätzen ihres Berufsstandes und nach dem Lehrbuch der Kriminalistik eher als sehr, sehr frei zu bezeichnen. Nele ist mit dem Polizeipräsidenten verwandt und Art war bzw. ist der Freund des amtierenden Bundeskanzlers. Letzteres spielt hier, wie schon in Band 1, keine untergeordnete Rolle - private und berufliche Ebene gehen hier eine unfreiwillige Symbiose ein, die allerlei aktuelle und historische Herausforderungen mit sich bringt.

Die Haupthandlung sind die bizarren Morde, die originell und plakativ in Szene gesetzt werden. Aber auch die Nebenhandlung, die Geschichte von Jo und Bell, einem jungen Paar aus völlig unterschiedlichen sozialen Schichten, sorgt für spannende Unterhaltung.

Der Kölner Marc Raabe ist durch seinen Beruf in der TV- und Medienproduktion und in der großen Medienwelt verankert. Das merkt man auch als Leser, denn sein Blick auf diesen Mikrokosmos der Reichen und Schönen findet sich hier in Ansätzen wieder. Aber eben nur als Momentaufnahme. Marc Raabe widmet sich vielen aktuellen Themen und so finden sich radikale Klimaaktivisten, dicht gefolgt von Nerds, die durchaus Videos und Bilder zu veröffentlichen wissen, die Fakes sind - die Schattenseiten der kontroversen Themen rund um eine hoffähig werdende künstliche Intelligenz.

Ich war schon immer ein Freund von guten Nebenfiguren. Hier hat Marc Raabe mit der rebellischen Leo eine Figur geschaffen, die vielleicht auch ein Zerrbild unserer heutigen Jugend sein könnte. Eine allgemeingültige Moral wird man hier aber nicht finden, und der Streuung einer einzigen Wahrheit sind Grenzen gesetzt.

Art Mayer ist wie gewohnt als harter Hund angelegt, zeigt aber immer wieder seine verletzliche und weiche Seite - nur nicht öffentlich. Seine Partnerin Nele ist nach den Ereignissen des ersten Teils posttraumatisiert und als werdende Mutter mit sich, ihrer Umwelt und auch ihren Kollegen nicht immer einverstanden.

"Die Dämmerung" ist eine weitere Steigerung des ersten Bandes: Der Morgen". Eine spannende Geschichte, die bewusst von den brillanten Charakteren getragen wird. Marc Raabe überlässt hier nichts dem Zufall und ist ein Meister im Spiel mit einer spannenden Note von Psychologie, die nachhaltig ist. Gerne hätte ich mir noch mehr innen- und medienpolitische Themen gewünscht. Hier kann Marc Raabe in Zukunft sicher noch mehr aus dem persönlichen Nähkästchen plaudern. Die noch interessanteren Nebengeschichten und Nebenfiguren wie Nele und Art werden gekonnt eingesetzt.

Fazit

Mit „Die Dämmerung“ erscheint ein heller Stern am Thrillerhimmel des Jahres 2024. Tolle Charaktere, die uns hoffentlich auch 2025 mit „Die Nacht“ begegnen werden. Ein starker Thriller - unbedingt lesenswert.
Michael Sterzik

Mittwoch, 1. Mai 2024

Der Untergang der Wager - David Grann


Das Klischee, der Dienst auf einem europäischen Kriegsschiff sei zwar hart, aber romantisch gewesen, hält sich hartnäckig. Aber dieser kleine Kosmos von mehreren hundert Männern - Matrosen, Soldaten, Handwerkern und Offizieren - war alles andere als romantisch, und schon gar nicht lustig. Der Kapitän hatte mehr Macht über die Mannschaft als der König oder Gott. Die Abläufe an Bord, das Vertrauen in den jeweils anderen an den Segeln, in der Takelage oder im Seegefecht an den Kanonen verlangten Vertrauen. Diese gegenseitige Abhängigkeit erforderte auch ein hohes Maß an Disziplin. Meuterei in der Marine wurde nicht geduldet - die Strafe war drastisch: entweder eine Aussetzung auf einer Insel, oder Erhängen. Trat die Mannschaft diesen Schritt, war das gleichbedeutend mit Piraterie, eine Rückkehr in die Heimat war somit ausgeschlossen.

Wenn man hier recherchiert, und die Quellenlage ist durch Logbücher und Tagebücher gut, dann war ein Menschenleben nichts wert. Die Wahrscheinlichkeit, nach einer vielleicht mehrmonatigen oder gar mehrjährigen Reise seine Familie und Freude in der Heimat wiederzusehen, war äußerst gering. Die gesamte Mannschaft konnte durch Naturkatastrophen, Stürme, Gewitter, Piraten, feindliche Schiffe und nicht zuletzt durch mangelnde Hygiene und die Ausbreitung von Infektionskrankheiten vernichtet werden. Vom einfachen Matrosen bis zum hochrangigen Offizier. Der Tanz mit dem Tod machte keinen Unterschied.

David Grann erzählt von einem Untergang der Wager, einem leichten englischen Kriegsschiff mit anschließender Meuterei auf einer einsamen Insel und von Verbrechen, die aus Habgier, Rache und Macht geschehen sein mussten. 

„Der Untergang der Wager“ ist eher Fachliteratur, liest sich aber so spannend wie ein Thriller. 

Januar 1742. Ein windschiefes Segelboot strandet an der Küste Brasiliens, an Bord 30 Männer, die einzigen Überlebenden des königlichen Eroberungsschiffs »The Wager«, das in einem Sturm zerschellt ist. Sechs Monate später: Drei Schiffbrüchige werden in Chile an Land gespült und erklären die 30 Männer zu Meuterern, die skrupellos gemordet hätten … Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Das soll ein britisches Kriegsgericht entscheiden. Es geht um Leben oder Tod. David Grann spinnt aus dem Archivmaterial eines historischen Kriminalfalls eine packende und atmosphärisch dichte Abenteuererzählung. Schuld und Unschuld, Treue und Verrat liegen eng beieinander, und am Ende kommt eine schockierende Wahrheit zutage …(Verlagsinfo) 

Das Buch ist im Grunde die Schilderung einer ganzen Reihe von Dramen, und zwar in mehreren Akten. Die Frage, wer letztendlich der Verursacher des Untergangs war, wird nie abschließend geklärt werden können. Das Geschehen auf der Insel und die anschließende Rettung des Schiffes sind jedoch Gegenstand der Schilderung vieler Zeitzeugen. Hunderte von Menschen verloren ihr Leben durch Irrtümer, Fehleinschätzungen, Machtmissbrauch und letztlich durch schlichtes menschliches Versagen.

Schuld und Unschuld - es gibt keine Trennung. Täter und Opfer auch nicht, es waren Extremsituationen, die den verzweifelten Gestrandeten alles abverlangten - auch den eigenen Verrat an der Menschlichkeit. 

Spannend ist diese Tragödie allemal, und die Stimmung ist durchweg düster, aber nicht hoffnungslos, sonst hätte es keine Überlebenden gegeben, die später vor dem Militärgericht angeklagt wurden oder als Zeugen der Ereignisse aussagen mussten. 

Wir werden mit der menschlichen Maschinerie an Bord konfrontiert, die für das Überleben an Bord verantwortlich war. Wir leben und sterben mit diesen Menschen an Bord, die Stürme, Seegefechte und Krankheiten erlebten, die aufgrund der Enge und des Platzmangels an Bord die meisten Todesopfer forderten. Wir begegnen Zimmerleuten und einfachen Fähnrichen, die als Jugendliche innerhalb weniger Monate erwachsen werden mussten.

Wir beginnen die Politik Englands und des verfeindeten Spaniens zu verstehen, die darauf abzielte, Kolonien zu plündern und die Herrschaft über die Ozeane und ihre Handelsrouten zu erlangen. Der Kampf um die Vorherrschaft auf den Meeren wurde grausam und unerbittlich geführt. 

Der „Fluch der Karibik“ waren nicht nur die Piraten, es waren auch die Kriegsschiffe der verschiedenen Nationen, die durch ihre Willkür und Brutalität die Piraterie erst hervorbrachten.

Fazit

Kein Seemannsgarn - sondern eine drastische und transparente Schilderung von Extremsituationen, die den Menschen alles abverlangten. Spannend wie ein historischer Krimi. Nach diesem Buch ist die Seefahrt vielleicht weniger romantisch.


Michael Sterzik