Scharfrichter/Henker/Abdecker übten seinerzeit einen unehrenhaften Beruf aus, immer schon waren diese Männer gefürchtet, aber auch still geachtet. Meistens lebten sie mit ihren Familien jenseits der Stadtgrenzen. Dafür waren ihre Anwesen nicht gerade klein und sie selbst alles andere als mittellos.
Zum Scharfrichter wurde man in Kriegszeiten ernannt oder oftmals 'überredet', wenn man selbst straffällig geworden ist. Es gab in diesem Fall nicht viele Alternativen, und so beugte man sich lieber dem Druck der Stadträte als selbst den Kopf auf einen Richtklotz zu legen. Im Laufe der Zeit entstanden wahre "Henkerdynastien", Henkersfamilien, in denen der älteste Sohn die Nachfolge des Vaters antrat und in manchen Fällen auch von ihm im Töten und Foltern ausgebildet wurde. Das Gesellenstück stellte dann das "Enthaupten" eines verurteilten Verbrechers dar.
Trotz der ständigen Nähe zum Tod waren die Henker aber auch stets gelehrige Schüler des Lebens. Wer außer den Henkern hatte schon tiefgehende Kenntnisse der Anatomie eines Menschen oder kannte neben den Foltertechniken auch die Mittel um Verletzungen wieder zu heilen? Nicht selten waren Henker dem städtischen Medicus oder Bader in vielen Bereichen der Medizin im Wissen und in der Behandlung überlegen. Auch die Frauen der Henker assistierten darin ihren Männern, viele betrieben eine kleine, gutgehende inoffizielle Apotheke.
Mit dem Berufsstand des Henkers einher ging allerdings auch eine soziale Abgrenzung. Zwar wurden manche Henkersfamilien recht vermögend, doch die unsichtbare Brandmarkung als Handlanger des Todes war auch ein Fluch als ständiger Begleiter. Nicht selten waren diese Männer alkoholsüchtig oder gar gewalttätig, aber sie waren auch nicht ungebildet, im Grunde waren sie 'Opfer' der damaligen Ständegesellschaft.
Oliver Pötzsch hat mit "Die Henkerstochter" einen historischen Kriminalroman in diesem Umfeld verfasst. Sein Ermittler ist eine historisch belegte Figur und ein Ahne des Autors: der Schongauer Henker Jakob Kuisl.
Inhalt
Elf Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, also 1659, sind noch immer ganze Landstriche verwüstet und viele Städte haben weiterhin mit den Kriegsfolgen zu kämpfen. Wirtschaftlich ist die Infrastruktur alles andere als stabil, und das bayrische Schongau liegt in beständigem Wettstreit mit dem benachbarten Augsburg.
Der junge Peter Grimmer, Sohn eines Flößers, wird im Wasser treibend aufgefunden. Auf den ersten Blick ist es bereits offensichtlich, dass es sich niemals um einen Unfall handeln kann. Simon Fronwieser, Sohn eines Baders und studierter Medicus, untersucht die Leiche des Kindes und stellt fest, dass dieses durch mehrere Messerstiche getötet wurde. Verwundert findet Fronwieser auch ein seltsames eintätowiertes Mal auf der Schulter des toten Jungen.
Augenblicklich denken die aufgebrachten Bewohner und auch der Vater des getöteten Jungen an Hexerei, und der Verdacht fällt schnell auf die alte Hebamme Martha Stechlin, bei der sich der Junge zusammen mit anderen Kindern gerne aufgehalten hat. Jakob Kuisl, der Henker und Scharfrichter von Schongau, kann nur mit Mühe die aufgebrachten Bürger von einem Lynchmord an der alten Frau abhalten. Zu ihrer eigenen Sicherheit bringt sie Kuisl in den städtischen Kerker.
Fronwieser, der die Leiche des Jungen in das Haus des Henkers gebracht hat, untersucht die Leiche nun mit geübtem Auge auf Spuren und Hinweisen. Fronwieser beneidet den älteren Mann um sein Wissen in der Anatomie und die vielen medizinischen Büchern, die der Henker besitzt. Das Mal auf der Schulter des jungen wurde mit Hollersaft unter die Haut tätowiert. Nur warum? Was soll es darstellen? Ist es ein Zeichen von Hexen, von schwarzer, teuflischer Magie?
Jakobs neugierige und vorlaute Tochter Magdalena ist ebenso von dem Fall fasziniert wie ihr Vater, der an die Unschuld der alten Frau glaubt. Jakob Kuisl, der im großen Krieg mitgekämpft und viel Schreckliches gesehen und auch getan hat, der zudem auch schon hat "Hexen" brennen sehen, weiß, dass, sollte Martha Stechlin unter der Folter gestehen und brennen, weitere Frauen das gleiche Schicksal ereilen wird.
Kuisl versucht, den Gerichtsschreiber Lechner von der Unschuld der Hebamme zu überzeugen, doch dieser verlangt, dass die Stechlin möglichst schnell gefoltert und hingerichtet werden soll, damit endlich Ruhe in die Stadt einkehrt und möglichst kein Bevollmächtigter der Grafschaft Schongau die Ermittlungen übernimmt. Lechner glaubt selbst nicht an die Schuld der alten Frau, doch ist ihm eine befriedete Stadt lieber als ein kochender Hexenkessel, in den diese sich schlimmstenfalls verwandeln könnte.
Der Rat der Stadt tritt zusammen und beschließt, die Hebamme als rechtlich verurteilte Hexe zu opfern, zum Wohle der Stadt Schongau. Doch nicht alle Ratsmitglieder sind mit dieser Entscheidung einverstanden. Der junge Schreevogl spricht sich dagegen aus, doch auch er wird überstimmt. Schon einmal mussten viele Frauen sterben - nicht nur einfache Menschen der Stadt, sondern auch hoch angesehene Bürgerinnen wurden denunziert und angeklagt. Henker Kuisl sieht sich gezwungen, auf Beschluss des Rates die Hebamme einer peinlichen Befragung zu unterziehen. Doch er schont die alte Frau und lindert ihre Schmerzen.
Zwischenzeitlich findet der junge Medicus Fronwieser heraus, dass alte Hebamme oft Besuch von anderen Waisenkindern bekommen hat. Er trifft auch auf die kleine Sophie, die verängstigt erzählt, dass die Kinder vor irgendetwas Angst haben, und nur wenig später wird auch der Sohn des Krämers tot aufgefunden. Wie auch bei dem jungen Peter Grimmer trägt er das Mal auf seiner Schulter.
Zeitgleich wird ein Mann mit einer Knochenhand gesehen - ist er der Teufel? Viel Zeit bleibt Jakob und Simon nicht, um den wahren Mörder der Kinder zu finden, denn schon läuten die Sturmglocken der Stadt Schongau ...
Kritik
"Die Henkerstochter" ist das Debüt von Oliver Pötzsch, und sein Roman um den Schongauer Henker und dessen Ermittlungen präsentiert der Leserschaft eine spannende und fesselnde historische Kriminalgeschichte. Bereits das erste Kapitel versetzt den Leser in die gewaltsame und blutige Barockwelt nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg und gewährt einen ersten Einblick in den Berufsstand eines Henkers und den Ablauf einer Exekution.
Aus Fachbüchern, Filmen, Legenden und Sagen ist nicht unbedingt viel bekannt über das Leben eines Henkers und Scharfrichters. Viele mit der spärlichen Informationslage verbundenen Vorurteile werden in diesem Roman aufgelöst, unschöne Einzelheiten allerdings auch im Detail beschrieben. Eine ausgesprochen blutige und brutale Hinrichtung sowie die Folter an der Hebamme schildert Oliver Pötzsch dementsprechend neutral und sachlich.
Sein sehr strukturiertes und fundiertes Wissen hat Oliver Pötzsch im Grunde aus erster Hand. Er selbst ist Nachkomme des Jakob Kuisl, und diese Familie war in Schongau und überhaupt im bayrischen Land eine wahre Dynastie von Henkern. In den Unterlagen seiner Vorfahren recherchierte er sorgsam und schuf in der Folge ein großartiges Erzählepos.
Logisch stimmig, mit einer interessanten Handlung und einem mitreißenden Erzählstil dargeboten, ist "Die Henkerstochter" eine Perle in diesem Genre. Man erfährt nicht nur viel über die Arbeit und das Lebens eines Henkers und seiner Familie, sondern der Autor gewährt uns auch einen eindringlichen Blick auf Schongau mit seiner Stadtgeschichte und der zu jener Zeit brenzligen politischen und gesellschaftlichen Lage.
Die Geschichte entwickelt sich dabei von Kapitel zu Kapitel konsequent weiter, und damit auch der Spannungsbogen, dessen Auflösung am Ende plausibel und mit einem Aha-Effekt daherkommt. Der Leser kann also im Laufe der Handlung die Ermittlungen von Kuisl und Fronwieser mitverfolgen und so manches Mal die gut eingebauten Wendungen und Erklärungen auf sich wirken lassen.
Die kleinen Nebenschauplätze und Geschichten, die Dialoge zwischen Fronwieser und seinem verbohrten Vater sowie die Liebesgeschichte und die daraus resultierenden Schwierigkeiten zwischen dem jungen Fronwieser und Magdalena, der Tochter des Henkers, sind ebenso unterhaltsam wie spannend zu lesen. Diese Nebenschauplätze tun der Handlung gut und schildern wirklichkeitsnah die Lebensarten und Komplikationen der damaligen Epoche.
Die Protagonisten wurden ausgezeichnet charakterisiert. Kuisl als Vertreter des Gesetzes ist zwar grundsätzlich eine positive ausgeformte Gestalt, doch auch er hat seiner dunklen und geheimnisvollen Seiten, auf die allerdings manchmal nur am Rande verwiesen wird; auch die Hintergründe seiner Familie oder Fronwieser als Studienabbrecher der medizinischen Künste wären noch ausbaubar gewesen. Trotzdem sind die Charaktere liebevoll und ausreichend fein gezeichnet, mit vielen Ecken und Kanten versehen, mit negativen und positiven Eigenschaften, die ja erst (teils) fiktive Figuren zum Leben erwecken.
"Die Henkerstochter" ist so konzipiert, dass Fortsetzungen möglich sind. Allerlei offene Fragen stellen sich am Ende. Zwar wird der Fall selbst, wie es sich gehört, gelöst, doch bleibt die Ungewissheit, wie es weitergehen wird mit der Henkerstochter und dem Ermittlungsduo Kuisl und Fronwieser.
Fazit
"Die Henkerstochter" ist ein lesenswerter historischer Kriminalroman mit einer ungemein dichten und nicht weniger spannenden Geschichte. Allein der Titel "Die Henkerstochter" ist ein wenig unpassend, da diese zwar zum Handlungskreis gehört, jedoch keine tragende Rolle spielt. In manchen Passagen hätte die Handlung dichter sein können, es fehlen noch einige Details, aber diese werden vielleicht in den nachfolgenden Romanen nachgereicht. Die Gegenspieler sind leider nur oberflächlich geschildert, denn über ihr Leben oder ihre Motivation wird nicht viel preisgegeben. Eher eindimensional angelegt, erfüllen sie nur ihren Zweck, mehr nicht.
Zu empfehlen ist der Roman trotz kleiner Abstriche zweifelsohne, und ich hoffe, ich werde dem etwas bärbeißigen Henker Jakob Kuisl und seinem naiven und schlauen Gehilfen Fronwieser noch häufiger begegnen.
Am Ende des Buches gibt sich der Autor Oliver Pötzsch noch die Ehre, der Erzählung seinen persönlichen Stempel aufzudrücken und seine enge Verwandtschaft zum Hauptcharakter Jakob Kuisl und sine Beziehung zur Stadt Schongau zu schildern. Dieses Nachwort rundet die Geschichte der "Henkerstochter" gelungen ab und weckt für sich genommen bereits das Interesse an weiteren Roman dieser Reihe.
Der Autor
Oliver Pötzsch, Jahrgang 1970, arbeitet seit Jahren als Filmautor für den Bayerischen Rundfunk, vor allem für die Kultsendung "quer". Er ist selbst ein Nachfahre der Kuisls, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert die berühmteste Henker-Dynastie Bayerns waren. Oliver Pötzsch lebt in München.
511 Seiten
http://www.ullsteinbuchverlage.de
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Freitag, 18. Juli 2008
Die Henkerstochter - Rezension
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