Wir alle erinnern uns an den fürchterlichen, terroristischen
Anschlag in Berlin am 19.12.2016. Der tunesische, radikalisierte Terrorist Anis
Amri fuhr mit einem gestohlenen LKW direkt in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche
in Berlin. 12 Menschen starben, über 55 weitere Besucher wurden zum Teil schwer
verletzt. Der Attentäter floh zu Fuß, wurde aber wenig später in Italien bei
einer Ausweiskontrolle von zwei Beamten erschossen, da Anis Amri sofort zu
seiner Waffe gegriffen habe, mit der auch den polnischen Fahrer des gestohlenen
LKWs getötet hat. Kapitel und Fall abgeschlossen!?
So einfach ist es nicht – ganz und gar nicht. Ein V-Mann
der Kriminalpolizei in Nordrhein-Westfalen warnte das LKA schon ein Jahr vor
dem Anschlag in Berlin vor Anis Amri. Er beschwor und warnte die Beamten, dass dieser
Hochgefährlich sei und schlug vor, ihn vorzeitig bei einem fingierten
Waffenkauf zu verhaften. Diese Warnungen wurden nicht ernst genommen –
vielleicht von seinen Führungsagenten, nicht aber vom LKA, oder dem
Innenministerium. Das LKA zieht den V-Mann Murat Cem aus der Salafistenszene ab
und verfrachtet ihn und seine Familie in ein Zeugenschutzprogramm. Er gilt als sehr
gefährdet – es gibt einen Tötungsaufruf. Als V-Mann ist er vielleicht nun für
immer „verbrannt“. Dies ist seine persönliche Geschichte.
Murat Cem ist der Deckname – VP01 heißt er in den Akten.
Als türkischer „James Bond“ ermittelte er verdeckt für die Kriminalpolizei. Ihm
ist es zu verdanken, dass viele Mörder, Dealer, Diebe und schließlich auch
idealisierte, islamische Terroristen aus dem Verkehr gezogen wurden. Die
Spiegel-Reporter erzählen in dem vorliegenden Band seine „Lebensgeschichte“.
Der V-Mann Murat Cem wächst im Ruhrgebiet auf. Schon als
Kind und Jugendlicher wird er mit Verbrechen konfrontiert. Seine Umgebung ist ein
kleiner Kosmos von türkischen Familien - durchsetzt von Drogen- und
Waffenhandel, von täglicher Gewalt und Straßenkämpfen. Ende der 90er Jahre wird
er als Dealer beim Drogenschmuggel verhaftet und vor die Wahl gestellt –
Gefängnis – oder verdeckter Ermittler. Er ist hochtalentiert, kann sich gut auf
andere Menschen einstellen, ist erfindungsreich, wortgewandt und sensibel. Er
überredet, manipuliert, hinterfragt seine Zielpersonen und wird so zum
erfolgreichsten Polizeispitzel der deutschen Kriminalgeschichte. Murat Cem
genießt seinen „Job“ und geht völlig in ihm auf, er wird zum Adrenalin-Junkie,
er braucht den Nervenkitzel und den lebensgefährlichen Tanz auf dem Vulkan. Ein
Fehler könnte seinen Tod bedeuten – dass weiß er. Seine Kalkulation geht auf,
auch wenn er manches Mal Kopf und Kragen riskiert. Eine Anerkennung bekommt er
von seinen Führungsagenten, auch Geld – letzteres ist ihm nicht wichtig – was zählt
ist der „Kick“. Von seiner „Arbeit“ weiß seine Frau nichts, sie ahnt etwas,
aber äußert sich nicht. Seine „Erfolge“ werden zwar in den Nachrichten
thematisiert – aber als V-Mann ist er eine Person, die immer im Schatten steht.
Nahezu 60 Einsätze gehen auf sein Konto, dass in 17
Jahren als V-Mann.
Das Buch bezieht sich auf den persönlichen Schilderungen
von Murat Cem. Die Autoren vom Spiegel – haben aber durch die Recherche von Justizakten
und Gesprächen, den Wahrheitsgehalt geprüft.
Murat Cem ist kein Engel – er hat mehrere Vorstrafen, er
ist ein Krimineller, aber einer mit Herz und Verstand. Er hatte die
unterschiedlichsten Jobs, nie lange Zeit – seine Berufung ist die eines
professionellen, verdeckten Ermittlers. Tragisch ist – dass er von
verschiedenen Polizeibehörden und auch dem Innenministerium fallen gelassen
worden ist. Er ist depressiv, die Bilder des Anschlages auf den Berliner
Weihnachtsmarkt werden ihn immer begleiten. Er hatte gewarnt – seine „Schuld“
wird er nicht los, es lässt ihn nicht los, der Job besonders der in
Salafistenszene hat ihn körperlich und geistig über seine Grenzen verbrannt. Noch
immer im „Fegefeuer“ stehend versucht er wieder Anschluss zu finden – er will
wieder ermitteln. Er darf „noch“ nicht.
Doch sein Kapitel ist noch nicht gänzlich beendet.
Vielleicht sagt er vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags aus – das könnte
unangenehm werden, besonders für das LKA und das Innenministerium.
„Undercover – ein V-Mann packt aus“ ist ein brisanter
Titel, der auch hoch spannend ist. „True Crime“ in seiner reinsten Form.
Informativ – bewegend – und eine indirekte Anklage, dass man V-Männer, die ihr
Leben riskieren um andere zu schützen zu retten, nicht einfach nackt im Regen
stehen lassen sollte. Gerade dieser Aspekt – die soziale, menschliche Verantwortung
ist ein direkter Laserpointer auf das Gewissen der Polizei- und Justizbehörden.
Fazit
Pageturner – der manchen Thriller und Krimi der
Belletristik einäschert. Spannende Unterhaltung – Authentizität ist hier das
Zauberwort – dass den Leser in eine Zelle mit dem „Gewissen eines V-Mannes“
einsperrt und flugs den Schlüssel wegwirft.
Murat Cem – verdient ein solches, gegenwärtiges Schicksal
nicht. Er hat Leben gerettet – Mörder überführt, Drogen und Waffen aus dem
Verkehr gezogen, die viele Leben zerstört hätten. Als V-Mann ein Täter und
Opfer in einer Person. Er ist „Türke“ aber in seinem „Herzen“ Deutscher –
eigentlich nicht wichtig – viel wichtiger ist, dass er als Mensch in Stich
gelassen wird. Dieser Aspekt verärgert, wirft Fragen auf, lässt Misstrauen
gegenüber den Instanzen zu, die uns eigentlich schützen sollen.
Lesen Sie diesen Titel – vielleicht werden sie sehen das
Justizia zwar nicht blind ist – aber durchaus ein fieses Miststück sein kann.
Michael Sterzik
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