Sonntag, 19. April 2020

Interview zu seiner True-Crime-Reihe - mit Dr. Andreas Gößling


Hallo Herr Gößling. Vielen Dank, dass Sie sich für dieses Interview etwa Zeit nehmen.

1. In den letzten Jahren haben Sie im Genre „Thriller“ als Einzel- sowie als Co-Autor sehr erfolgreiche wahre Kriminalgeschichten thematisch in Romanform verfasst. Warum glauben Sie fasziniert die Leser „True“ Crime“ so sehr?
Darüber kann ich nur spekulieren. Die Beweggründe der Leser dürften mindestens so vielfältig sein wie die Ausformungen des True-Crime-Genres. Beim „Experten-True-Crime“ bspw. mit dem Namen eines erfahrenen Ermittlers oder Forensikers auf dem Cover schätzen Leser wohl hauptsächlich die Realitätsnähe der geschilderten Untersuchungen. Generell sorgt die Vorstellung, dass die erzählten Schrecknisse „wirklich passiert“ sind, anscheinend für den zusätzlichen Kick, den frei erfundene Mordgeschichten nicht bieten können. Eine Rolle spielt vermutlich auch, dass Überbietungswettbewerbe im Krimi- und Thriller-Genre zumindest teilweise zu abstrusen Plots führen, bei denen Plausibilität und Wahrscheinlichkeit zu den ersten Opfern gehören.

2. Für diese Art von Thriller, müssen Sie vermute ich mehr als sonst recherchieren? Erzählen Sie uns wie Sie vorgehen und welche Personen sie einbeziehen - alle beteiligten Personen sofern sie noch leben- Kriminalbeamte – Opfer – Zeugen – Täter?
Um beim Schreiben festen Boden unter den Füßen zu haben, ist es mir zunächst einmal wichtig, die Schauplätze der (realen) Geschehnisse auf altmodisch analoge Art aufzusuchen. Zur Vorbereitung von „Drosselbrut“ verbrachte ich einige Zeit in Charleroi, der heruntergekommenen belgischen Industriestadt, von der aus Dutroux operiert hat. Und bevor ich „Rattenflut“ schrieb, war ich sogar in Indonesien und habe entlegene Inseln per Boot und zu Fuß erkundet, die dann zu realen Vorbildern der fiktiven Insel Maipaan wurden.
Wichtig sind natürlich auch die persönlichen Gespräche mit Personen, die aus erster Hand berichten können. Während der Vorbereitung von „Drosselbrut“ konnte ich bspw. mit Hinterbliebenen eines von Dutroux verschleppten und ermordeten Mädchen sprechen und hatte das Glück, auf hochrangige Personen aus der politischen Administration Belgiens zu treffen, die mir aufschlussreiche Materialien zu den Tathintergründen zuspielten.
Von Investigativreportern und Ermittlern bekomme ich gleichfalls immer wieder hilfreiche Auskünfte. Dazu gehört allerdings auch der dringende Rat, bei den Nachforschungen eine bestimmte Grenze nicht zu überschreiten, also weder das Leben von Informanten noch das eigene aufs Spiel zu setzen.
Oftmals kann man sich auch mit Erkenntnissen zu einem ähnlich strukturierten Fall oder Täter behelfen; bei meiner Trilogie geht es ja um kriminelle Kartelle, also letztlich mehr um Muster und Systeme als um individuelle Details, die natürlich von Fall zu Fall variieren. So kam mir bei den Recherchen zu „Wolfswut“ zugute, dass ich in einem anderen Fall an der Suche nach einer vermissten jungen Asiatin im „Untergrund“ Berlins beteiligt war, wie sie dann sehr ähnlich im Roman geschildert wird. Und sicher hat es auch nicht geschadet, dass ich schon vor Jahren ausführliche Interviews mit verurteilten Mördern und Sexualstraftätern geführt habe. Auf diesen Gesprächen sowie auf Fallschilderungen von Experten für Täter- und Opferpsychologie fußt nicht zuletzt die Darstellung des Serientäters Tycho Terry alias Kilroy, der in „Rattenflut“ aus der Innenperspektive dargestellt wird.

3. Die „Wahrheiten“ , die Sie als Schriftsteller aufarbeiten und thematisieren sind mitunter gewagt – da Sie ja auch indirekt darauf eingehen, dass prominente Persönlichkeiten, Staat- und Regierungschef, Vorstände, Richter und Staatsanwälte zu den „Täterkreis“ gehören?! Hat man Sie nach dem Erscheinen von „Wolfswut“ und „Drosselbrut“ gewarnt, oder bedroht?
Glücklicherweise nicht. Bei meinen teilweise aufwendigen Recherchen ziehe ich von vornherein die oben erwähnte Grenze: Niemand soll durch meine Nachforschungen gefährdet werden, mich selbst eingeschlossen; letzten Endes handelt es sich ja „nur“ um Unterhaltungsliteratur. Gerade bei ihren Recherchen zum noch immer brisanten Fall Dutroux haben ein Enthüllungsreporter und ein Privatermittler mir eindrucksvoll geschildert, an welcher Stelle sie aufgrund welcher Überlegungen jeweils beschlossen, ihre Nachforschungen einzustellen.

4. Wie verarbeiten Sie diese Eindrücke, damit meine ich die Ergebnisse Ihrer Recherche und die Gespräche mit den beteiligten Personen? Können Sie das professionell verarbeiten – oder wie behelfen Sie sich als Autor und Mensch den moralischen Kompass zu justieren?
Um Geschehnisse im Extrembereich menschlicher Erfahrung nachvollziehen und jenseits von Klischees davon erzählen zu können, ist es aus meiner Sicht zwingend erforderlich, sich in alle Beteiligten – auch in die Täter – bis zu einem hohen Grad hineinzuversetzen. Also sich nicht nur kriminalistische Fakten und psychiatrische Theorien zu Gemüte zu führen, sondern auch die Grenze zwischen „normal“ und „abnorm“, von der man sich sonst zum Wohl der eigenen seelischen Gesundheit fernhält, in der Imagination gezielt zu überschreiten. Hierfür habe ich im Lauf der Jahre eine Mentaltechnik entwickelt und immer weiter verfeinert, die mir sowohl die extreme Annäherung als auch den rechtzeitigen Rückzug erlaubt. Hilfreich ist hierbei wohl auch meine Erfahrung als Buch-Ghostwriter, der sich über Jahrzehnte darin geübt hat, so minimalinvasiv wie maximal erfolgreich in die Köpfe seiner Top-Klienten (und späteren Cover-Autoren) aus Wirtschaft und Wissenschaft vorzudringen.

5. Zusammen mit Prof. Dr. Michael Tsokos haben Sie eine sehr erfolgreiche Trilogie veröffentlicht. Als Co-Autor ist man ja etwas die „graue Eminenz“ wie war die Zusammenarbeit mit dem wohl bekanntesten Aufschneider der Republik?

Längere Zeit durchaus interessant, denn wie so oft bei Ghostwriting- oder Ko-Projekten gelangte ich in einen Mikrokosmos, den kommunizierbar zu machen nicht ohne Reiz war. Bei mehr als vierzig Büchern, die bis heute unter meinem Namen erschienen sind, kann ich es auch verschmerzen, wenn ich mal nicht auf dem Cover eines Buchs stehe. Allerdings ziehe ich es normalerweise vor, solche Bündnisse nach ein bis zwei Büchern zu beenden, um mich neuen Herausforderungen zuzuwenden. Ich bin ein entschiedener Anti-Spezialist, dem es bald langweilig wird, wenn sich Routine einstellt. Bei der Zusammenarbeit mit Tsokos war ich quasi Opfer unseres Erfolges, bis ich schließlich die Zusammenarbeit aufkündigte, um wieder vermehrt (allein) unter eigener Flagge zu segeln.

6. Überlegen Sie ggf. ein Sach-/Fachbuch über die Kriminalfälle zu verfassen, mit denen Sie sich in den letzten Jahren beschäftigt haben?
Nein, das überlasse ich den jeweiligen Fachleuten. Mein Fach ist das Erzählen.

7. Wieviel „Wahrheit“ steckt hinter dem fiktiven Charakter „Kira Hallstein“?
Hallstein ist eine extreme Persönlichkeit, die es so in der Realität der Landeskriminalämter nicht gibt – hoffentlich, sollte man wohl hinzufügen. Ihre eigene Traumatisierung macht die Besessenheit plausibel, mit der sie zur Jägerin der „Bruderschaft“ wird. Für mich personifiziert Kira zugleich eine tiefere Wahrheit: Als Rächerin wird sie denen, die sie zur Strecke bringen will, auf verstörende Weise immer ähnlicher; eine Entwicklung, die sich mit Einsichten der Traumapsychologie deckt.

8. Können Sie uns, ohne zu viel verraten etwas von Ihren künftigen Projekten erzählen?
Dem True-Crime-Genre werde ich vielleicht nicht für immer den Rücken kehren, aber im Moment reizt es mich mehr, einen rein fiktionalen Psychothriller zu schreiben. Eingebettet aber wiederum in die gesellschaftliche Wirklichkeit des heutigen Berlin. Daneben arbeite ich kontinuierlich an Neuausgaben meiner seit den 1990ern erschienenen Werke, die in der Edition Marbuelis (www.marbuelis.de) als Hardcover erscheinen. Schon mein erster Roman, „Der Irrläufer“, entstanden Ende der Achtzigerjahre, war übrigens ein Psychothriller.

9. Waren Sie schon einmal an einem Punkt, bei dem Sie sagten – Sorry, dass geht zu weit, dass kann und will ich nicht schreiben? Und wenn ja aus welchen Gründen?
Nein, das ist nie passiert. In meinen Romanprojekten lote ich oftmals Nachtseiten menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung aus, in die sich sonst kaum jemand vorwagt. Aber wie weit ich gehe, liegt ja bei mir.

10. Man munkelt, dass Sie einen Band mit düsteren lyrischen Texten veröffentlichen werden. Stimmt das?
Das stimmt. Er heißt Die Stunde der Mörder und wird hoffentlich noch im Jahr 2020 erscheinen.
Dankeschön Herr Gößling. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg.
Ich danke Ihnen.

Michael Sterzik / Andreas Gößling

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