Samstag, 27. Dezember 2025

Lübecks Töchter - Der Traum von Bildung und Freiheit - Anna Husen


Der Roman führt uns in das Deutschland um 1870 – eine Ära, in der Bildung und geistige Selbstentfaltung für Frauen keineswegs vorgesehen waren. Das gesellschaftliche Korsett war eng geschnürt: Die Frau hatte im Haus zu dienen und Kinder zu erziehen; intellektuelle Ambitionen wurden systematisch unterdrückt. Eine echte berufliche Perspektive oder gar akademische Bildung existierte in deutschen Städten kaum, schon gar nicht unter städtischer Förderung. Zwar gab es den historischen Lichtblick mutiger Frauen aus dem Bürgertum, die gegen diese Missstände ankämpften, doch verlangt dieses ernste Thema eine differenzierte Auseinandersetzung, die über bloße Unterhaltungsliteratur hinausgeht.
Das historische Fundament wäre eigentlich solide: 1876 gründeten die Schwestern Clara und Amélie Roquette im historischen Lübeck tatsächlich ein Lehrerinnenseminar – ein Meilenstein preußischer Pädagogik mit einem für damals beachtlichen Fächerkanon von Physik bis Französisch. Doch Anna Husen nutzt in ihrem Auftaktband „Lübecks Töchter“ diese spannende historische Vorlage leider nur als loses Gerüst.

Die Geschichte setzt 1874 ein: Die Lehrerin Amélie kehrt mit dem Traum der Schulgründung zurück, um Frauen die Selbstbestimmung zu ermöglichen. Als Gegenspieler wird ihr der Beamte Ferdinand Rubens vorgesetzt – eine Figur, die leider weniger wie ein glaubwürdiger historischer Akteur, sondern mehr wie der stereotype Bösewicht einer Telenovela wirkt, dessen einziger Zweck es ist, den Heldinnen Steine in den Weg zu legen.

Statt sich auf den harten Kampf um Bildung zu fokussieren, gleitet die Handlung schnell in melodramatische Gefilde ab. In Amélies Jugendfreund Richard findet sich der obligatorische emotionale Anker. Die Annäherung an den jungen Witwer und dessen Tochter sowie der konstruierte Konflikt – die Wahl zwischen „Traum und Liebe“ – bedienen vorhersehbare Muster. Die historische Relevanz der Roquette-Schwestern droht hierbei völlig im Weichzeichner einer trivialen Romanze zu versinken.

Der Roman erfüllt bedauerlicherweise jedes Klischee einer seichten Liebesgeschichte. Zwar dient Lübeck, die einstige Königin der Hanse, als atmosphärische Bühne, und die Beschreibungen der Gassen und der Trave-Ufer mögen Lokalkolorit versprühen. Doch wirkt dies oft wie ein touristischer Stadtführer, der über die inhaltlichen Schwächen hinwegtäuschen soll. Für Lübeck-Kenner mag das Flanieren durch die Königsstraße reizvoll sein, für den anspruchsvollen Leser historischer Romane reicht eine hübsche Kulisse jedoch nicht aus.
Die Autorin bemüht sich zwar, den Drang nach Freiheit und Wissen darzustellen, scheitert jedoch an der historischen Authentizität. Außer den Namen der Protagonistinnen und ein paar Eckdaten bleibt wenig Historisches übrig. Der Rest ist Fantasie – und davon leider zu viel des Guten. Die Figuren handeln und denken oft erschreckend modern, als hätte man heutigen Menschen historische Kostüme angezogen. Wer einen fundierten Historischen Roman erwartet, wird enttäuscht: Es ist eine modern verklärte Liebesgeschichte, die das Etikett „historisch“ kaum verdient, da sie die komplexe, oft brutale Realität der Frauen jener Zeit zugunsten romantischer Verwicklungen vernachlässigt.

Michael Sterzik

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