Der Autor des vorliegenden Titels: „Refugium“ – John Ajvide Lindqvist ist in seinem Heimatland ein sehr bekannter Autor. Viele seiner Werke – Kurzgeschichten, Romane wurden international vermarktet.
Wenn man es nicht vorher wüsste, empfindet man
beim Lesen des Romans immer den Eindruck; irgendwo habe ich mal etwas Ähnliches
gelesen, oder gesehen? Diese gewissen Parallelitäten kommen nicht von ungefähr.
Lindqvist war ein potenzieller Kandidat, um die „Millennium-Reihe“ von Stieg
Larsson weiter fortzuführen. Nach David Lagercrantz der den sechsten Teil
verfasst hatte, und durchaus erfolgreich war – suchte der Verlag eine
Abwechslung. Laut dem Autor hätte er sich durchaus gefreut, Lisbeth Salander und
Mikael Blomkvist neue Abenteuer erlebe zu lassen. Sein Skript wurde allerdings
vom Verlag abgelehnt.
Tja, was macht man nun also mit einer Handlung
und Figuren, die eigentlich vielversprechend sind und die man dann nicht
veröffentlichen darf. Man schreibt diese um.
Ursprünglich sollte Kim Ribbing, der die Spuren
eines tiefen Traumas in sich trägt, die ehemalige Polizistin Julia Malmros bei
Recherchen unterstützen. Doch dann erschüttert ein Verbrechen das sommerliche
Leben in den Schären. Mittsommer. Der längste Tag. Die dunkelste Nacht. Nicht
weit von Julias Ferienhaus werden die Gäste eines Mitsommerfests grausam
hingerichtet. Nur Astrid Helander, der Tochter der Familie, gelingt es, sich zu
retten. Aber das junge Mädchen ist verstummt. Für Julia ist die Zeit gekommen,
zu handeln. Während Kim sich auf die Spur der Täter setzt und ihnen im World
Wide Web und rund um den Globus folgt, nutzt Julia ihre Kontakte zur
Kriminalpolizei. Ausgerechnet ihr Exmann Johnny ist mit den Ermittlungen
betraut. Wer steht hinter den Auftragskillern? Und was hat Kim Ribbing zu
verbergen, der immer wieder im Alleingang arbeitet (Verlagsinfo)
Lindqvist tauscht die Geschlechter und damit
auch deren Talente und Eigenschaften aus. Obwohl man den schriftstellerischen
Stil, seinen Ausdruck und seine Sprache von Stieg Larsson nicht ersetzen, oder
kopieren kann, ist der vorliegende Band herausragend erzählt. Eine Reihe, die
durch unterschiedliche Autoren erzählt wird, sollte man die verschiedenen Stile
nicht vergleichen. Unabhängig davon besteht doch die offensichtliche
Möglichkeit, die Figuren weiterzuentwickeln, obgleich die Substanz dieses
Charakters erhalten bleiben soll.
Sollte man „Millennium“ nicht kennen, so findet
man hier einen hervorragenden und abwechslungsreichen Spannungsroman.
„Refugium“ ist aber trotz der Spannung keinen Roman, der sich zu ernst nimmt.
Der schlitzohrige Humor des Autors findet hier seine Bühne. Vergleicht man
charakteristische Tiefe der beiden Hauptakteure Julia und Kim – so werden beide
gleichen Einblicke in ihre Vergangenheit und Gegenwart geben. Julia Malmros ist
das alte Ego ihres Schöpfers Lindqvist – es ist wohl eine persönliche
Aufarbeitung und Abrechnung der scheinbar schmerzlichen Absage, dass Erbe von
Stieg Larsson nicht anzutreten.
Es sind die Geheimnisse und die Distanziertheit
die Kim mit sich trägt, die den Leser völlig einfangen und auch faszinieren
werden. Seine traumatisierte Vergangenheit wird aufgearbeitet, seine
Persönlichkeit hat sich noch lange nicht vollständig offenbart. Viele Szenen
und auch die Figuren sind manchmal polarisierend – das ist allerdings auch so
gewollt. Mit dem zweiten kommenden Band dieser Reihe werden die Altlasten
sicherlich abgearbeitet sein und die Figuren werden sich womöglich von einer
anderen Seite zeigen. Besonders gut gelungen sind die emotionalen Themen, wenn
nicht nur die Figuren Gefühle zeigen, sondern auch die atmosphärische Stimmung,
deren man sich nicht entziehen kann.
Die Beziehungsebene zwischen den beiden ist
liebenswert chaotisch. Wohin der Weg der beiden als Duo, als Paar, als Freunde
gehen wird, ist absolut offen.
Der Zeitgeist – die aktuellen Themen, die uns
bewegen, Klimaschutz, Wirtschaft, Energiekrise, Korruption und die politischen
Interessen findet man ansatzweise thematisch in „Refugium“ auch wieder. Größere
Ansprüche werden hier nicht bedient – also bitte die ggf. hohe
Erwartungshaltung minimieren.
Der zweite Band könnte die historischen
Traumata von Kim als Grundstein haben. Wie seine literarisch verwandte Seele
Lisbeth Salander verfolgt er den Weg einer Abrechnung mit seinen früheren
Peinigern. Das dürfte interessant werden.
Fazit
Erfrischende Spannung – zwei tolle Figuren, die
zusammen mehr Fragen aufwerfen, als beantworten. Ein sehr eigensinniger
Schreibstil – der frech und munter ein Talent offenbart. Damit empfehle ich
diesen Titel, denn er gehört absolut zu den stärksten Thrillern dieses Jahres.
Michael Sterzik