Gerne erinnern wir uns an die klassischen Kriminalfilme vergangener Zeiten. Ein lokal begrenzter Tatort, ein überschaubarer Kreis von Verdächtigen. Jeder könnte der Täter sein. Jeder hat seine Geheimnisse, und wenn man genauer hinschaut, verhalten sie sich alle merkwürdig zueinander, oder?
Im Mittelpunkt steht ein Ermittler, ein Analytiker, ein begnadeter Menschenkenner, ein hochintelligenter Charakter, der Spuren sieht, die andere übersehen und als menschlicher Lügendetektor feine Nuancen im Sprachbild der verdächtigen Personen erkennt.
Dazu kommt vielleicht noch eine mysteriöse, paranormale Geistergeschichte und fertig ist der Grundstein für eine spannende Handlung? So einfach ist das.
Um alles in Einklang zu bringen, muss der Autor auch originelle Ideen verwenden, sonst wirkt seine Geschichte wie eine Schablone, die schon oft verwendet wurde. Erinnern wir uns gerne an die Großmeisterin der Kriminalliteratur Agatha Christie - denn Parallelen tauchen unweigerlich auf.
Mit „Waiseninsel“ geht es für die finnische Kriminalbeamtin Jessica Niemi im vierten Band dieser hochkarätigen Krimireihe weiter. Ihr Schöpfer, der Finne Max Seeck, ist derzeit wohl der angesagteste und vielleicht auch erfolgreichste Autor. Inzwischen hat die Buchreihe auch das Interesse amerikanischer Produzenten geweckt, die sich die Rechte gesichert haben. Man darf auf eine Verfilmung gespannt sein. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet.
Kommissarin Jessica Niemi gerät in eine Auseinandersetzung, wird handgreiflich und prompt von einem Passanten gefilmt. Das Video geht viral und sie wird beurlaubt. Um Abstand zu gewinnen, fährt Jessica auf die zwischen Finnland und Schweden gelegenen Åland-Inseln.
Dort trifft sie auf eine Gruppe älterer Menschen, die als Kinder während des Krieges fliehen mussten und hier auf der Insel in einem Waisenhaus lebten. Nun treffen sie sich wieder. Als einer der Alten tot aufgefunden wird, beginnt Jessica zu ermitteln. Denn bereits zuvor kamen zwei Menschen auf dieselbe mysteriöse Weise ums Leben. Alle drei Opfer scheinen mit der Legende um »Das Mädchen im blauen Mantel« im Zusammenhang zu stehen ...(Verlagsinfo)
Alles ist anders - wenn man diesen Roman mit seinen drei Vorgängern vergleicht. Jessica Niemi ist auf sich allein gestellt. Kein Team, das ihr vor Ort den Rücken freihält und sie bei ihren Ermittlungen unterstützt. Als Einzelgängerin sollte das eigentlich ihre Komfortzone sein, aber auch ein einsamer Wolf braucht ein Rudel um sich herum, wenn er sich in einer angespannten Grenzsituation befindet.
Wie bereits erwähnt, hat sich Max Seeck bei der Gestaltung wohl von alten Klassikern à la Agatha Christ inspirieren lassen. Die Spannung baut sich nur sehr langsam auf, die Größe des kriminalistischen Puzzles erschließt sich nur sehr langsam. Der Schauplatz der Handlung ist regional sehr begrenzt. Auch der Kreis der Verdächtigen ist nicht dörflich, sondern eher ein kleines Team „alter“ Herren und Damen, die sehr geheimnisvoll wirken.
Die Insel präsentiert sich mit einer natürlichen Härte und einer Geistergeschichte um das Mädchen im blauen Mantel. Letztlich ist es diese Legende, die dem Roman seine eigentliche Kraft verleiht. Ein latentes, aber immer wieder offensives Gefühl der Gänsehaut, das man beim Lesen nicht los wird. So könnte man die Atmosphäre beschreiben, wie die eines kleinen Vorpostens auf einem Friedhof.
Im Mittelpunkt der Handlung steht natürlich das Mädchen im blauen Mantel, das hier in einem ehemaligen Waisenhaus für kurze Zeit gelebt hat und spurlos verschwunden ist.
Interessant ist auch der Aspekt, dass Jessica, die ein wenig an Schizophrenie leidet, bald nicht mehr in der Lage ist zu unterscheiden, welche Geister nun real sind und welche nicht.
Der vierte Band - „Waiseninsel“ - ist eindeutig der schwächste dieser hervorragenden Reihe. Beispiellose Längen und Szenen/Dialoge, die sich am Ende als völlig überflüssig erweisen. Der Wechsel der Perspektive Jessica / Das Mädchen im blauen Mantel ist mir zu unausgewogen. Ich hätte mir gewünscht, dass es mehr Rückblicke in die Vergangenheit gegeben hätte.
Allerdings muss ich sagen, dass Max Seecks Erzählstil und seine Ausdrucksweise exzellent sind. Nicht poetisch, aber mit viel Verstand und Gefühl umgesetzt. Dadurch werden viele emotionale Punkte beim Leser aktiviert.
Auch die Charakterentwicklung bleibt in diesem Band „Waiseninsel“ eingefroren. Es gibt nicht viel Neues - weder bei Jessica noch bei den anderen Figuren in ihrem Umfeld. Ob es eine Fortsetzung der Reihe geben wird, wird am Ende nicht klar. Sie kann - muss aber nicht. Und wenn - dann muss die Entwicklung von Jessica insgesamt weitergehen. Es muss einen Meilenstein geben, sonst ist sie als Person nicht mehr interessant.
Fazit
Eine einsame Insel, so unspektakulär wie die Spannung des Romans. Ich hoffe, dass der nächste Band inhaltlich wieder stärker wird. Denn diese Reihe gehört zu den besten dieser Zeit, bis auf diesen Ausrutscher.
Michael Sterzik
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen