Als Geheimnisträger, als ehemaliger Agent eines Nachrichtendienstes ist es schwierig, auf die Frage zu antworten, welchen Beruf man ausgeübt hat. Einfach nüchtern zu sagen: „Ich war früher Spionin im Dienste der CIA und habe verdeckt gearbeitet“ - das klingt zwar ein bisschen nach James Bond, aber grundsätzlich wird diese Frage ehemaligen Geheimdienstlern trotzdem gestellt. Schließlich bringt es der Beruf mit sich, dass man Zeuge oder vielleicht sogar Täter in brisanten Situationen wird. In Krisenländern, in denen es um Drogen, Terrorismus, Waffenhandel geht, kann es für den Spion/Agenten lebensgefährlich werden. Eine Marionette an langen Fäden, die sicherlich auch die eine oder andere posttraumatische Belastungsstörung mit sich bringen dürfte. Ach ja, und neben diesem heiklen Beruf gibt es ja auch noch das Privatleben, eventuell mit Partner und Kindern - und selbst diese schützt man mit Lügen, Betrug und vielen Halbwahrheiten, um sie nicht selbst in den Fokus einer Bedrohung zu rücken.
Und wenn man dann tatsächlich das Renten-/Pensionsalter erreicht - dann trägt man vielleicht so viel seelisches Gepäck mit sich herum, dass man sich nur noch nach idyllischer Ruhe sehnt. Alte Gewohnheiten, die man aber auch in einem Nebenfach des Gepäcks mit sich führt - und zwar immer. Und was passiert, wenn alte Freunde oder Feinde an die Tür klopfen, um ein offenes Thema zu beenden? Richtig - das kann viel, viel Ärger bedeuten.
Tess Gerritsen beschreibt diese Thematik im ersten Buch der Reihe: „Die Spionin“.
Über Maggie Bird kann man einiges erzählen: Sie züchtet Hühner, ist eine zuvorkommende Nachbarin und lebt ein ruhiges Leben im idyllischen Purity in Maine. Die scheinbar durchschnittliche Sechzigjährige besucht regelmäßig einen Buchclub, wo sie mit ihren ebenfalls pensionierten Freunden Martinis trinkt – gerührt, nicht geschüttelt. Sie kann hervorragend mit einem Gewehr umgehen. Und sie spricht nie über ihre Vergangenheit.
Als eines Tages eine tote Frau in ihrer Auffahrt liegt, ist Maggie sofort klar: Dies ist eine Nachricht aus der »guten alten Zeit«. Vor sechzehn Jahren arbeitete sie für die CIA, und nun scheint die Vergangenheit sie eingeholt zu haben. Zusammen mit ihren Freunden aus dem Buchclub – alles ehemalige Spione wie sie – nimmt Maggie die Ermittlungen auf, denn sie alle wissen: Für die lokale Polizei ist dieser Fall eine Nummer zu groß …(Verlagsinfo)
Es ist keine neue Idee, eine Reihe alter Spione wieder auferstehen zu lassen, die ihr altes Netzwerk und ihre Fähigkeiten nutzen, um Verbrechen aufzuklären. Der Auftakt der Erfolgsautorin ist jedenfalls originell gelungen und verspricht gute Unterhaltung und einen soliden Spannungsbogen.
Die Geschichte gliedert sich in Gegenwart und Vergangenheit - wobei die Rückblenden inhaltlich spannender und abwechslungsreicher erzählt sind. „Die Spionin“ ist bei weitem kein Actionthriller, das Tempo ist gemächlich, aber die Geschichte überzeugt durch ihren Realismus. Vielleicht abgesehen von den fünf Freunden, allesamt ehemalige Agenten, die zusammen in einer Kleinstadt leben, Martinis trinken und bei gutem Essen über Literatur plaudern.
Es gibt eine Vielzahl von Figuren in diesem Roman, die sicher auch in den Folgeromanen eine Rolle spielen werden. Schließlich gibt es noch vier weitere Freunde, die von ihren früheren Abenteuern bei der CIA zu berichten haben.
So konzentriert sich alles auf Maggie - und die anderen Figuren werden eher oberflächlich beschrieben. Hier hätte ich mir die eine oder andere Nebenfigur gewünscht, die der Geschichte etwas mehr Tiefe gegeben hätte.
Originell und augenzwinkernd ist dagegen die Polizistin in dem kleinen Ort, die neben einer Leiche langsam begreift, dass die rüstigen, gut ausgerüsteten Rentner etwas zu verbergen haben. Deren Ruhe und Gelassenheit mit souveränem Schweigen zu beantworten, bringt die junge Beamtin ein wenig zur Verzweiflung.
Neben der handfesten Spannung kommt auch das Gefühl nicht zu kurz. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Maggie erzählt, die mit vielen alten Gefühlen, Ängsten und Vorwürfen kämpft, die sie nur schwer in den Griff bekommt.
„Die Spionin“ macht große Lust auf eine Fortsetzung und ich hoffe, dass sich im zweiten Band nicht wieder alles um Maggie Bird dreht.
Fazit
Fünf Freunde, das sind wir - mit vielen Geheimnissen und einem gewissen Talent, auch im Alter nicht zur Ruhe zu kommen. Eine spannende Geschichte mit tollen Charakteren.
Michael Sterzik