Gedankenkontrolle – oder das Nachempfinden von Erfahrungen einer Person und das mit visuellen und Audio-Elementen – als würde man einen Film sehen, in dem man die Emotionen und tatsächlichen Erinnerungen des Protagonisten fühlt, sieht, riecht. Wäre dies realisierbar und wenn ja, in welchen medizinischen, therapeutischen Bereichen könnte man diese einsetzen? Wäre diese auch für die polizeilichen Behörden ein wertvolles Werkzeug um einen Tathergang zu analysieren?
Wir würden
dabei ethische und moralische Türen eintreten. Ein Blick in das innerste
„Selbst“ – ein psychologischer Offenbarungseid, der mitunter Gefühle und
Ereignisse zeigt, die dessen Persönlichkeit verletzen könnten.
Die Idee ist
nicht neu – erinnern wir uns an dem Film „Strange Days“ aus dem Jahre 1995.
Hier wird die Technologie auf einer Cyberpunk-Bühne verwendet. Übrigens ist der
Film sehr zu empfehlen.
Nun im Jahre
2021 angekommen, greift die britische Autorin S.E.Moorhead zu einer sehr
ähnlichen Technologie in ihrem Debütwerk: „Witness X – Deine Seele ist der
Tatort. Die Story spielt im Jahre 2035 – die digitale Technik hat sich
natürlich auch bei Alltagsgegenständen verändert, ist kommunikativer,
persönlicher geworden. Dabei ist das vorliegende Buch, aber keine Science
Fiction, auch kein Cyberpunkroman mit wilden futuristischen Ideen. Es ist ein
Thriller geworden und ein sehr spannender.
Sein
Opferprofil: Heilige & Hure
Sein Tatort: London, jeden Februar
Sein Aufenthaltsort: ein Hochsicherheitsgefängnis ... Oder?
Wieder ist es Februar. Wieder wird eine brutal entstellte Leiche gefunden.
Neuropsychologin Kyra Sullivan erkennt Parallelen zu den Taten des
Februar-Killers, dem vor 14 Jahren ihre Schwester zum Opfer fiel. Sie fürchtet,
dass es bald ein zweites Opfer geben wird und der Falsche hinter Gittern sitzt.
Eine neue, höchst umstrittene Technologie könnte Kyra helfen, den wahren Killer
zu stellen – doch die Folgen für ihre Seele wären schrecklich. (Verlagsinfo)
Ein
Neuropsychologischer Thriller – mit wissenschaftlichem Fundament, und dabei
noch nicht mal unrealistisch. Ein Erinnerungstransfer ist eine hochemotionale
Reise in den Gedankenpalast eines anderen Menschen. Spannend und
erkenntnisreich in jedem Fall – doch unsere Psyche ist noch immer in der
Medizin zum Teil unentdecktes Land. „Witness X – überzeugt nicht nur über einen
hochkomplexen Spannungsbogen, sondern überzeugt durch erzählerische Emotionen,
die die Hauptperson Kyra an ihre Grenzen bringt. Diese touristischen Flashbacks
in die Gedanken eines anderen funktionieren recht gut – aber die Nebenwirkungen
und Effekte sind extrem nachhaltig. Kyra sieht „verstorbene“ Personen – als
„Geister“ – als Phänomene. Sie ist sich nicht mal sicher – ob sie das träumt,
oder diese real sind und mit ihr interagieren möchte. Hinzu noch erhebliche
Vorwürfe, dass sie ihrer Schwester nicht helfen konnte und ist der Killer, den
sie ins Gefängnis gebracht hat, wirklich der Täter, oder hat sie sich einfach
emotional verwirrt und geirrt?
Die Story ist
ungemein spannend und vielfältig. Tolle Dialoge präsentieren sich. Die
Atmosphäre, in die uns die Autorin katapultiert, ist zum großen Teil sehr, sehr
angespannt, manchmal düster und verzweifelt, aber nicht, ohne dass hier eine
Hoffnung und Erlösung entstehen könnte.
Diese
Dramaturgie wirkt überzeugend, dass Tempo der Story überschlägt sich nicht in
wilden actiongeladenen Szenen. Die Raffinesse sind diese Gänsehautmomente,
manchmal plötzlich auftretende explosive Emotionen, die den Leser überfallen.
Die
erzählerischen Perspektiven wechseln souverän, sodass sie ein Gesamtbild zeigen
bei dem Kyra, der Täter usw. ihre Beweggründe offenbaren. Aus dem
wissenschaftlichen, technologischen Bereich erfährt man leider viel zu wenig.
Hier hätte ich mir durchaus mehr Hintergrundwissen und Erklärungen gewünscht.
Ich bin mir
nicht sicher, ob es eine Fortsetzung geben könnte. Sicherlich ist es aber –
dass ich empfehle den vorliegenden Roman: „Witness X“ zu verfilmen. Es lädt
dazu förmlich ein, denn schon beim Lesen formt sich ein sprichwörtliches Kopfkino.
Der
schriftstellerische Stil der Autorin ist sehr gut. Klar verständlich – auf den
Punkt gebracht und doch sehr komplex erzählt. Haupt- und Nebenfiguren sind
abgestimmt und es gibt nichts an überflüssigen Informationen, die ggf. die
Story künstlich aufhalten.
Fazit
„Witness X –
Deine Seele ist der Tatort“ ist ein Thriller, der emotionale Türen eintritt und
gleich den Raum betritt und einfach konsequent bleibt. Großartiger
Spannungsbogen – tolle Charaktere und viele Schockmomente, die perfekt inszeniert
wurden. Einer der stärksten Thriller in diesem Jahr. Unbedingt lesen.
Michael
Sterzik