Das Böse zu definieren, gleicht dem Versuch, einen Schatten zu fassen. Obwohl es in jedem Leben seine Spuren hinterlässt, entzieht es sich einer klaren Kontur. Wir sind Mitschöpfer dieser Negativität, oft verfangen in ihrem Netz, manchmal suchen wir sogar ihre Unterstützung und nutzen sie als Versteck.
Es ist eine polarisierende, intelligente Kraft, die uns unaufhaltsam verändert, wie ein stiller Tsunami, dessen mörderische Wellen alles in seiner Umgebung zu verschlingen drohen. Und doch liegt in diesem Abgrund eine verlockende Faszination. Wir bewundern die scheinbare Unabhängigkeit, das unerschütterliche Selbstbewusstsein und die Stärke, die das Böse auszustrahlen scheint – Eigenschaften, die wir uns so sehr wünschen. So korrumpiert die Macht, und das Böse versteckt sich oft hinter der verführerischen Maske des Guten.
Besonders charismatische Menschen, die scheinbar grenzenlos ihren eigenen Weg gehen, üben dabei eine besondere Anziehung aus. Doch hinter der selbstbewussten Fassade, in den stillen Momenten der Selbstreflexion, zerfließen die klaren Grenzen. Dort, wo man sich selbst schonungslos analysiert, offenbart sich die wahre, unscharfe Wahrheit über das Grenzgebiet zwischen Gut und Böse.
Der vorliegende Roman von Linus Geschke: „Der Trailer“ thematisiert den Begriff „Böse“ und das auf einem hohem Spannungsniveau.
Ein abgelegener Campingplatz in den Ardennen. Eine Studentin, die dort unter mysteriösen Umständen verschwindet. Als der Fall auch 15 Jahre später noch ungelöst ist, nimmt die Hamburger Kommissarin Frieda Stahnke an einem True-Crime-Podcast teil, um den Fokus der Öffentlichkeit erneut auf die Geschehnisse zu richten. Sie ahnt nicht, dass sie damit nur weitere Morde auslösen wird.
Wout Meertens, ein schmieriger Barbesitzer aus Köln, hört diesen Podcast. Er war zur selben Zeit wie die verschwundene Lisa Martin in Camp Donkerbloem, aber er redet nicht mit der Polizei. Verurteilte Stalker tun das nie. Nicht, wenn sie sich nicht selber verdächtig machen wollen.
Als sich die Wege von Frieda und Wout kreuzen, wird klar, dass sie nur gemeinsam herausfinden können, was mit Lisa Martin geschah. Dafür müssten sie sich jedoch vertrauen – ohne es später zu bereuen …(Verlagsinfo)
Manche Krimis fesseln uns durch die bloße Wucht ihrer Handlung, eine Sogwirkung, die uns das Buch nicht mehr aus der Hand legen lässt. Doch dann gibt es Romane, in denen die Charaktere so vielschichtig sind, dass die eigentliche Handlung zur Nebensache wird. „Der Trailer“ von Linus Geschke ist genau so ein Buch.
Die Geschichte an sich ist nicht revolutionär, aber das ist hier auch nicht der Punkt. Geschke scheint bewusst auf stereotypische Muster zu verzichten. Stattdessen tauchen wir ein in ein komplexes Spiel, in dem die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge fließend und verdammt groß ist. Es gibt keine einfache Moral, die uns am Ende beruhigt.
Das Herzstück dieses Romans sind die Charaktere. Sie sind meisterhaft und tiefgründig gezeichnet. Geschke überlässt es uns, sie einzuordnen – ein scheinbar einfaches Gut-Böse-Schema, das sich jedoch schnell auflöst. Denn in dieser Welt ist das Böse salonfähig und raffiniert, fernab von klischeehaften Bösewichten. Es gibt keine klassische Rollenverteilung. Stattdessen begegnen wir fehlerhaften Menschen, deren Handlungen oft unvorhersehbar sind und nicht unseren Erwartungen entsprechen.
Die Verwandlung vom Guten ins Böse wird hier als ein Prozess dargestellt, der nicht immer eine bewusste Entscheidung ist, sondern eine Reaktion auf erlittenes Leid. Wenn man gezwungen oder tief verletzt wird, kann sich eine Eskalationsspirale in Gang setzen, die das Fundament der eigenen Seele erschüttert. Verbrechen ist eben kein erlernbarer Beruf, sondern oft eine Konsequenz menschlicher Abgründe.
Obwohl „Der Trailer“ der erste Teil einer Trilogie ist, bietet er einen in sich abgeschlossenen Handlungsstrang. Die Weichen für die Fortsetzungen sind jedoch subtil gestellt. Die Spannung entsteht nicht durch unglaubwürdige Zufälle oder überdrehte Räuberpistolen, sondern durch die beklemmende Realität der Figuren und ihrer Motive. Nach der Lektüre wird man unweigerlich über diese Charaktere nachdenken müssen – sie lassen einen nicht so schnell los.
Fazit:
Die Monster in „Der Trailer“ sind verdammt menschlich und das Böse ist salonfähig. Ein großartiger Pageturner, der lange nachwirkt.
Michael Sterzik