Dienstag, 25. November 2025

Eisland - Kim Faber und Janni Pedersen


Wenn das Fundament der Gerechtigkeit bröckelt: Ermittlungs- und Verfahrensfehler können Existenzen in Schutt und Asche legen. Solche Justizirrtümer zerstören unwiederbringlich – nicht nur die verurteilte Person. Auch für die Opfer und ihre Angehörigen ist es eine unerträgliche Bürde, wenn ein potenzieller Täter die Freiheit zurückerhält. Doch auch die Ermittler selbst bleiben von dieser moralischen Zerreißprobe nicht unberührt. Die quälende Frage, ob der Freigelassene erneut schwere Verbrechen, vielleicht sogar einen weiteren Mord begeht, lastet wie ein Mühlstein auf ihrem Gewissen und lässt den Kompass der Gerechtigkeit ins Trudeln geraten.

In diesem Spannungsfeld positioniert das dänische Autorenduo Faber und Pedersen den vorliegenden fünften Band ihrer Erfolgsserie. Sie tauchen tief in diese moralischen Grauzonen ein und verweben sie geschickt mit der Schattenwelt der organisierten Bandenkriminalität. Man spürt: Die Reihe stellt sich neu auf. Frische Gesichter betreten die Bühne des Verbrechens, was dem etablierten Ensemble eine neue Dynamik verleiht.

Die Handlung beginnt mit einem Paukenschlag: Nach sieben Jahren wird der Mörder eines elfjährigen Jungen freigelassen – die Schuld ist juristisch nicht mehr haltbar. Doch Signe Kristiansen und Martin Juncker von der Kopenhagener Polizei sind fest von seiner Täterschaft überzeugt. Entgegen aller Anweisungen ihrer Vorgesetzten nehmen die beiden Ermittler die Jagd wieder auf. Als kurz darauf ein Staatsanwalt spurlos verschwindet, entdeckt ihre Kollegin Nabiha Khalid eine explosive Verbindung, die alle Fälle in einem brisanten Licht erscheinen lässt … (Quelle: Verlagsinfo)

„Eisland“ ist mehr als nur ein Thriller – es ist ein Spiegelbild nordischer Realität. Die Autoren scheuen sich nicht, schmerzhafte, brisante Themen zu sezieren: Neben dem klassischen Mordfall beleuchten sie die finsteren Abgründe organisierten Kindesmissbrauchs und das Wirken internationaler Verbrechersyndikate, die auch in Skandinavien längst Fuß gefasst haben.

Um ihren Protagonisten eine greifbare Tiefe zu verleihen, gewähren uns Faber und Pedersen einen intimen Einblick in das Privatleben der Ermittler. Sie bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Gesetzestreue und persönlicher Verzweiflung. Diese schonungslose Thematisierung des Privaten wirkt dabei nie aufgesetzt, sondern unterstreicht die absolute Realitätsnähe der gesamten Handlung.

Die architektonische Konstruktion der Geschichte ist schlichtweg formvollendet. Dies ist keine phantasievolle Räuberpistole mit unrealistischen Zufällen oder Figuren, die Klischees bedienen. Der erweiterte Cast ist eine gelungene Bereicherung, die das Spektrum von Signe Kristiansen und Martin Juncker zwar neu justiert, aber ihre Relevanz keineswegs schmälert.

Die Erzählgeschwindigkeit ist hervorragend getaktet, und der Wechsel der Perspektiven verschafft dem Leser nicht nur eine tiefere Charakterzeichnung, sondern auch Momente, um Atem zu holen. Die Autoren legen erkennbar Wert auf die konsistente und logische Weiterentwicklung ihrer Figuren; Brüche oder Widersprüche sind Fehlanzeige. Die Dialoge und Interaktionen wirken durchdacht und gehen weit über das Oberflächliche hinaus.

Unterm Strich kann man dem sechsten Teil dieser Dänen-Krimireihe mit großer Vorfreude entgegensehen. Ein Wiedersehen mit diesem brillanten Figuren-Ensemble ist garantiert. „Eisland“ markiert unbestreitbar einen der stärksten Titel innerhalb der Serie.

Fazit

Ein schonungslos realistischer Kriminalroman mit garantierter Sogwirkung und einem absolut authentischen Hintergrund. Die skandinavische Krimilandschaft beweist mit solchen Titeln ihre ungebrochene Hoftauglichkeit.


Michael Sterzik

Mittwoch, 12. November 2025

Rabens Rache - Christian von Ditfurth


Christian von Ditfurths vierter Band der Karl-Raben-Reihe ist weit mehr als ein historischer Kriminalfall: Es ist eine unbarmherzige Konfrontation mit dem Beginn des Vernichtungskrieges 1939 und dem allgegenwärtigen Terror des NS-Staates. Mit dem Überfall auf Polen beginnt nicht nur das lange Leiden der Zivilbevölkerung durch die Willkür der deutschen Besatzung, sondern auch die systematische Mordmaschinerie der SS nimmt Gestalt an. Während Kriegsverbrechen in Deutschland propagandistisch als "Heldentaten" verharmlost werden, zieht sich die Schlinge des Überwachungsstaates erbarmungslos zu – jede Kritik führt in die Fänge der Gestapo oder ins KZ. In dieser Atmosphäre der Angst, Denunziation und des geflüsterten Widerstands beginnt die Geschichte von Karl Raben.

Es ist der 1. September 1939. Hitler überfällt Polen. Kommissar Karl Raben wird in eine der Einsatzgruppen eingezogen, die hinter der Front Juden ermorden sollen. Doch als er sich weigert, an einer Massenerschießung teilzunehmen, wird er zur Kripo in Berlin zurückversetzt. Dort beschäftigt ihn der Mordfall eines Abteilungsleiters in Joseph Goebbels‘ Propagandaministerium. Einer der Verdächtigen steht bereits auf der Liste des Kommissars: Fred Wetterau, der Filme für die Nazi-Wochenschau dreht, ist auch einer der Mörder des Kommunisten Kurt Esser, die Raben seit 1932 verfolgt. Da Wetterau gerade in Posen dreht, muss Raben zurück ins besetzte Polen, um zu ermitteln. Währenddessen zählt SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich in Berlin eins und eins zusammen: Kann es Zufall sein, dass Essers Mörder einer nach dem anderen unter ungewöhnlichen Umständen sterben? (Verlagsinfo) 

Christian von Ditfurth, der sein historisches Wissen als Autor meisterhaft nutzt, erschafft einen Roman, der einem Anti-Kriegsbericht gleichkommt. Mit beklemmender Bildgewalt schildert Raben die Schrecken der Schlachtfelder in Polen: zerfetzte Körper von Frauen und Kindern, vollständig zerstörte Dörfer. Der Autor macht die Gräuel der Massenerschießungen erfahrbar.

Besonders erschütternd sind die Dialoge mit den Tätern, die sich im Dunstkreis von Alkoholexzessen über ihre psychischen Belastungen beklagen. Der Roman zeigt, wie junge Soldaten und Familienväter systematisch zu Mördern geformt werden. Auch die Nazi-Größen Goebbels, Himmler und Heydrich treten auf und verkörpern die irre, übermenschliche Ideologie des Regimes.

"Rabens Rache" ist eine schwere Kost, deren beklemmende Atmosphäre den Schrecken der Zeit nachhaltig widerspiegelt. Die Hauptfiguren agieren auf einem Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann. Ihr Widerstand ist mutig, aber nicht selbstmörderisch. Sie leisten Gegenwehr und töten, teils aus Selbstschutz, teils um Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen.

Man mag die Methoden verurteilen, doch man wird unweigerlich zum Sympathisanten der Verzweiflung eines Karl Raben, der es durch Schläue und Raffinesse immer wieder schafft, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

Fazit

Dieser Roman nimmt Schrecken und Verzweiflung an die Hand der Spannung. "Rabens Rache" ist ein fesselnder, realistischer Band, der nicht nur unterhält, sondern zum Verständnis der komplexen Opfer- und Täterrollen in unserer Geschichte beiträgt. Man kann sich bereits auf die Fortsetzung der Reihe und das weitere Schicksal dieser liebgewonnenen Figuren freuen.

Michael Sterzik

Freitag, 31. Oktober 2025

Rabenthron - Rebecca Gable

 


Rebecca Gable, die unbestrittene Königin des historischen Romans, entführt uns in ihrem neuesten Werk „Rabenthron“ (Bastei Lübbe Verlag) in ein England, das von den gnadenlosen Raubzügen der Nordmänner – Dänen und Norweger – in seinen Grundfesten erschüttert wird. Was einst mit einzelnen Wikingerschiffen begann, die kleine Küstendörfer und Klöster plünderten, entwickelte sich zu einer professionell organisierten Invasion ganzer Flottenverbände. Ihr Ziel: nicht nur Raub und Zerstörung, sondern die dauerhafte Ansiedlung auf englischem und französischem Boden.

Die Küsten Englands und Frankreichs werden zu Brutstätten der Wikingersiedlungen, der Einfluss skandinavischer Adeliger in der Normandie wächst stetig, und mit ihm der unerbittliche Wille, England zu erobern. Das Land wird zu einem jahrzehntelangen Schlachtfeld, auf dem der Einfluss der Wikinger und später der Normannen immer stärker wird. Eine Eroberung, die weit über die Insel hinaus ganz Europa prägen sollte, indem sie die angelsächsische Sprache durch das anglonormannische ablöste und so den Grundstein für das moderne Englisch legte.

Im Herbst des Jahres 1013 reist der junge Engländer Ælfric of Helmsby nach London, um den dänischen Gefangenen Hakon bei Hofe abzuliefern. Doch die Stadt liegt in Trümmern, ein Spiegelbild des schwachen Königs Ethelred, der sein Reich nicht vor den ständigen Wikingerüberfällen schützen kann. Entgegen aller Erwartungen sind Ælfric und Hakon keine Feinde, sondern Freunde geworden, die sich auf ihrer gefährlichen Reise aufeinander verlassen mussten. Schon bald gehören sie zum inneren Kreis der machtbewussten Königin Emma. Doch der Widerstand der Engländer bröckelt, und mit dem Tod des dänischen Königs steht ein noch gefährlicherer Feind vor den Toren... (Verlagsinfo)

Die Wut der Wikinger, entfacht durch die blutige Nacht am 13. November 1002, als König Ethelred die dänischen Siedler in ganz England abschlachten ließ, ist der eigentliche Auslöser für die Eroberung Englands. An diesem schicksalhaften St.-Brice-Day wurde auch die Schwester des dänischen Königs ermordet, was die Rachegelüste der Nordmänner ins Unermessliche steigerte.

Die packende Geschichte erstreckt sich über die Jahre 1013 bis 1041 und rückt Königin Emma ins Zentrum des Geschehens. Als Normannin, die den englischen König heiratete, wird sie als kluge und machtbewusste Strategin dargestellt, die ihr eigenes „Game of Thrones“ spielt. Die Autorin zeichnet ein gnadenloses Bild von König Æthelred: zögernd, mutlos und fast depressiv, unfähig, sein Volk gegen die Wut und den Eroberungswillen der Dänen und Norweger zu verteidigen.

Rebecca Gable bleibt den historischen Quellen und Fakten treu, verwebt sie jedoch gekonnt zu einem spannenden Roman, der immer wieder auch als fesselnder „Geschichtsunterricht“ dient. Die Kriege werden nicht nur auf dem Schlachtfeld entschieden, sondern auch durch geschickte Verhandlungen und trickreiche Intrigen. Wer Gables Romane kennt, wird ihr erzählerisches Muster wiedererkennen, das sich an ihren früheren Werken orientiert, ohne dabei in Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen. Neben unangenehmen Figuren finden sich auch hier wieder starke, sympathische Charaktere.

Dieser unterhaltsame Band, ein Prequel, das die Helmsby-Reihe abschließt, besticht durch seine originelle und fesselnde Erzählweise des englischen Mittelalters. Auch wenn die Dramaturgie manchmal allzu offensichtlich ist, verzeiht man der Autorin diese schriftstellerische Freiheit, die uns ein „So könnte es gewesen sein“ präsentiert.

Fazit:

Faszinierende Geschichtsstunden mit einer starken Frau im Mittelpunkt, die die vernichtende Wirkung von Worten zu nutzen weiß.

Michael Sterzik

Montag, 6. Oktober 2025

Assassins Anonymous - Rob Hart


Der ernsteste Job der Welt trifft auf die absurdeste Therapiegruppe.
Das Genre ist bekannt für seine ernste Miene. Doch "Assassins Anonymous" bricht alle Regeln. Dieses Buch liefert nicht nur die spannenden Entwicklungen und raffinierten Täter, die Sie erwarten, sondern auch eine emotionale Tiefgründigkeit und einen unerwarteten Humor, der entwaffnet.


Im Mittelpunkt: die ultimative Sucht. Es geht nicht um Geld oder Rache – es geht um den Rausch des Tötens, der sich wie ein kurzfristiges Gottgefühl anfühlt. Die Täter jagen ihren nächsten Kick, aber sie jagen auch eine Lösung.
Und genau hier wird es verrückt: Statt Ermittlern, Zellen und Verhören gibt es nun... Gruppentherapie.


Kann tödliche Sucht geheilt werden? Ist der Mord zur Rettung vieler Leben eine Rechtfertigung oder nur eine Ausrede? Packend, provokant und brillant gemischt. Bereiten Sie sich auf einen Roman vor, der Sie lachen und nachdenken lässt, oft innerhalb derselben Seite.


Einst war Mark der gefährlichste Auftragskiller der Welt. Doch inzwischen hat er dieses Leben hinter sich gelassen und ist den Assassins Anonymous beigetreten, einer geheimen Selbsthilfegruppe für reumütige Auftragsmörder, und folgt deren Zwölf-Stufen-Programm.
Kurz vor seinem einjährigen Jubiläum wird Mark von einem mysteriösen Russen angegriffen, der ihn schwer verletzt und halbtot zurücklässt. Wissend, dass sein Angreifer zurückkehren wird, muss Mark schleunigst herausfinden, wer ihn umbringen wollte und warum. Aber wie soll er überleben, ohne rückfällig zu werden und selbst jemanden zu töten? (Verlagsinfo) 


Assassins Anonymous" ist ein Pageturner, der Ihre Erwartungen nicht erfüllen will.
Im Zentrum steht Mark, ein Mörder auf dem schmerzhaften Weg der Besserung. Sein verzweifelter Kampf, bei jeder körperlichen Auseinandersetzung nicht in die alten, tödlichen Muster zu verfallen, ist gleichzeitig amüsant und zutiefst rührend. Denn hinter der Fassade des Killers steckt ein Mann mit Empfindungen, der sich schmerzlich bewusst wird, was er getan hat.
Das Figurenensemble: Mörder, ja. Aber nicht Schwarz und Weiß.


Rob Hart verweigert die einfache Kategorisierung in Gut und Böse. Stattdessen beleuchtet er eine Selbsthilfegruppe voller Mörder – nette, vielschichtige Menschen, die alle vor dem gleichen Problem stehen: Der Drang zur Normalität ist ein endloser Maskenball, der ihre Seele zu zersplittern droht. Das überdimensionierte Puzzle dieser zerbrochenen Seelen wird zur Therapiestunde auf Lebenszeit mit ungeahnter Eigendynamik.


Philosophische Tiefe ersetzt den Betondeckel über die Taten.
Wer sind die Auftraggeber hinter den bestellten Tötungen? Sind sie nicht auch Handlanger des Todes, damit ebenso schuldig? Der Roman stellt die fundamentalen Fragen: Wann ist ein Mord gerechtfertigt? Die Antworten darauf gibt er uns nicht – die müssen wir uns selbst geben.
Mit Actioneinlagen von hervorragender Choreografie und dem konzentrierten Blick auf Marks persönliche Entwicklung (der Fokus liegt ausschließlich auf ihm und seiner prägenden Vergangenheit) zieht Hart Sie unwiderstehlich in die Geschichte. Am Ende werden Sie mit den Überlebenden sympathisieren und traurig sein, dass die Handlung zu Ende ist.


Fazit: Ein origineller Roman, der Spannung, eine Prise schwarzen Humors und tiefgreifende philosophische Gedankengänge vereint. Ein unterhaltsamer Pageturner, der anders ist – und gerade deshalb auf ganzer Linie überzeugt.

Michael Sterzik

Sonntag, 28. September 2025

Mörder unter uns - Hariett Drack


Hariett Drack entführt uns in ihrem neuesten Werk "Mörder unter uns" in eine Welt, in der das Böse oft ein vertrautes Gesicht trägt. Der nette Nachbar von nebenan, die langjährige Freundin, der eigene Partner – Menschen, die wir zu kennen glauben, entpuppen sich als Protagonisten düsterer Dramen. Drack beleuchtet die rätselhaften Facetten unserer Existenz, jene Momente emotionaler Überreaktion, die uns zu Taten treiben, die wir weder von uns selbst noch von anderen erwartet hätten.


Oft begegnen uns solche Individuen im Alltag, ohne dass wir ihre dunkle Seite erahnen. Wir neigen zu vorschnellen Urteilen, betrachten Taten als isolierte Momentaufnahmen und verurteilen, ohne die verborgene Vergangenheit zu kennen, die ein Verbrechen möglicherweise erklären könnte. Doch die Tat bleibt bestehen, während die Motive im Dunkeln verweilen.

Die vermeintliche Gleichheit vor Gericht und die Neutralität des Gesetzes entpuppen sich als Halbwahrheiten. Ebenso die Annahme, dass Verbrecher stets moralisch verkommene Individuen sind. Drack entlarvt diese Klischees und präsentiert uns Menschen, die wir alle kennen könnten – ob als Täter oder Opfer.

Als Gerichtsreporterin saß Harriett Drack in der ersten Reihe bei den bizarrsten und spektakulärsten Kriminalfällen, die vor dem Kölner Landgericht verhandelt wurden. Sie erzählt von einem rachesüchtigen Patienten, der seine Therapeutin entführt, einem Pädophilen, der seine Neigungen als Erzieher auslebt, und einer verzweifelten Mutter, die aus Angst vor ihrem rechtsradikalen Lebensgefährten ihr Kind tötet.

Mit prägnantem und klarem Blick erklärt sie, wie Täter ticken und warum nicht immer alle Motive einer Tat aufgedeckt werden können. Ihre Einblicke sind zugleich erschütternd und fesselnd, indem sie von wahren Verbrechen berichtet, die unweigerlich Fragen über Schuld und Verantwortung aufwerfen. (Verlagsinfo)

Die zwanzig Geschichten in diesem "True Crime"-Titel sind ein Wechselbad der Emotionen. Einige sind schwer zu ertragen, da die Motivation und Erklärung der Täter vor Gericht nicht mit unserem Empfinden von Gut und Böse in Einklang zu bringen sind. Andere wiederum lassen uns schmunzeln oder erstaunt nachdenken.

Dracks schriftstellerischer Stil ist packend, doch die Kürze mancher Fälle hinterlässt offene Fragen und den Wunsch nach mehr Tiefe. Einige Geschichten, die nur auf zwei Seiten beschrieben sind, hätten zugunsten ausführlicherer Darstellungen weggelassen werden können. Es sind leider zu kurz geratene Kurzgeschichten.

Fazit:

"Mörder unter uns" ist ein spannender und unterhaltsamer Titel – ideal für kurzweilige Leseerlebnisse. Es sind kleinere Gute-Nacht-Geschichten, die man auch zwischendurch genießen kann. Ich persönlich würde mir wünschen, einen umfangreichen Roman von Harriett Drack zu lesen, um noch tiefer in ihre faszinierende Welt der Kriminalfälle einzutauchen.

Michael Sterzik

Montag, 22. September 2025

Der Trailer - Linus Geschke


Das Böse zu definieren, gleicht dem Versuch, einen Schatten zu fassen. Obwohl es in jedem Leben seine Spuren hinterlässt, entzieht es sich einer klaren Kontur. Wir sind Mitschöpfer dieser Negativität, oft verfangen in ihrem Netz, manchmal suchen wir sogar ihre Unterstützung und nutzen sie als Versteck.

Es ist eine polarisierende, intelligente Kraft, die uns unaufhaltsam verändert, wie ein stiller Tsunami, dessen mörderische Wellen alles in seiner Umgebung zu verschlingen drohen. Und doch liegt in diesem Abgrund eine verlockende Faszination. Wir bewundern die scheinbare Unabhängigkeit, das unerschütterliche Selbstbewusstsein und die Stärke, die das Böse auszustrahlen scheint – Eigenschaften, die wir uns so sehr wünschen. So korrumpiert die Macht, und das Böse versteckt sich oft hinter der verführerischen Maske des Guten.

Besonders charismatische Menschen, die scheinbar grenzenlos ihren eigenen Weg gehen, üben dabei eine besondere Anziehung aus. Doch hinter der selbstbewussten Fassade, in den stillen Momenten der Selbstreflexion, zerfließen die klaren Grenzen. Dort, wo man sich selbst schonungslos analysiert, offenbart sich die wahre, unscharfe Wahrheit über das Grenzgebiet zwischen Gut und Böse.

Der vorliegende Roman von Linus Geschke: „Der Trailer“ thematisiert den Begriff „Böse“ und das auf einem hohem Spannungsniveau. 

Ein abgelegener Campingplatz in den Ardennen. Eine Studentin, die dort unter mysteriösen Umständen verschwindet. Als der Fall auch 15 Jahre später noch ungelöst ist, nimmt die Hamburger Kommissarin Frieda Stahnke an einem True-Crime-Podcast teil, um den Fokus der Öffentlichkeit erneut auf die Geschehnisse zu richten. Sie ahnt nicht, dass sie damit nur weitere Morde auslösen wird.

Wout Meertens, ein schmieriger Barbesitzer aus Köln, hört diesen Podcast. Er war zur selben Zeit wie die verschwundene Lisa Martin in Camp Donkerbloem, aber er redet nicht mit der Polizei. Verurteilte Stalker tun das nie. Nicht, wenn sie sich nicht selber verdächtig machen wollen.

Als sich die Wege von Frieda und Wout kreuzen, wird klar, dass sie nur gemeinsam herausfinden können, was mit Lisa Martin geschah. Dafür müssten sie sich jedoch vertrauen – ohne es später zu bereuen …(Verlagsinfo) 

Manche Krimis fesseln uns durch die bloße Wucht ihrer Handlung, eine Sogwirkung, die uns das Buch nicht mehr aus der Hand legen lässt. Doch dann gibt es Romane, in denen die Charaktere so vielschichtig sind, dass die eigentliche Handlung zur Nebensache wird. „Der Trailer“ von Linus Geschke ist genau so ein Buch.

Die Geschichte an sich ist nicht revolutionär, aber das ist hier auch nicht der Punkt. Geschke scheint bewusst auf stereotypische Muster zu verzichten. Stattdessen tauchen wir ein in ein komplexes Spiel, in dem die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge fließend und verdammt groß ist. Es gibt keine einfache Moral, die uns am Ende beruhigt.

Das Herzstück dieses Romans sind die Charaktere. Sie sind meisterhaft und tiefgründig gezeichnet. Geschke überlässt es uns, sie einzuordnen – ein scheinbar einfaches Gut-Böse-Schema, das sich jedoch schnell auflöst. Denn in dieser Welt ist das Böse salonfähig und raffiniert, fernab von klischeehaften Bösewichten. Es gibt keine klassische Rollenverteilung. Stattdessen begegnen wir fehlerhaften Menschen, deren Handlungen oft unvorhersehbar sind und nicht unseren Erwartungen entsprechen.

Die Verwandlung vom Guten ins Böse wird hier als ein Prozess dargestellt, der nicht immer eine bewusste Entscheidung ist, sondern eine Reaktion auf erlittenes Leid. Wenn man gezwungen oder tief verletzt wird, kann sich eine Eskalationsspirale in Gang setzen, die das Fundament der eigenen Seele erschüttert. Verbrechen ist eben kein erlernbarer Beruf, sondern oft eine Konsequenz menschlicher Abgründe.

Obwohl „Der Trailer“ der erste Teil einer Trilogie ist, bietet er einen in sich abgeschlossenen Handlungsstrang. Die Weichen für die Fortsetzungen sind jedoch subtil gestellt. Die Spannung entsteht nicht durch unglaubwürdige Zufälle oder überdrehte Räuberpistolen, sondern durch die beklemmende Realität der Figuren und ihrer Motive. Nach der Lektüre wird man unweigerlich über diese Charaktere nachdenken müssen – sie lassen einen nicht so schnell los.

Fazit:

Die Monster in „Der Trailer“ sind verdammt menschlich und das Böse ist salonfähig. Ein großartiger Pageturner, der lange nachwirkt.

Michael Sterzik

Sonntag, 14. September 2025

Die Dolmetscherin - Titus Müller

In einer Zeit, da Deutschland unter den Trümmern eines verlorenen Krieges begraben lag, schlug die Stunde der Gerechtigkeit in Nürnberg. 1945 hatte die bedingungslose Kapitulation nicht nur das Ende eines grausamen Krieges besiegelt, sondern auch die Flucht und den Freitod vieler Nazigrößen ausgelöst, die sich der Rechenschaftspflicht entziehen wollten. Doch die Sieger waren unerbittlich, und so standen im November 1945 die Hauptkriegsverbrecher vor einem internationalen Militärgerichtshof – die Augen einer gespannten Weltbevölkerung ruhten auf ihnen, sehnend nach Gerechtigkeit und vielleicht auch einem Hauch von Rache.


Nürnberg, einst die Stadt der Reichsparteitage, wurde zum Schauplatz eines historischen Prozesses, der nicht nur das Schicksal der Angeklagten besiegelte, sondern auch die Geburtsstunde des modernen Simultandolmetschens markierte. Ein Dutzend Dolmetscher, Frauen und Männer, standen unter enormem psychologischen Druck, als sie die unfassbaren Grausamkeiten der Vergangenheit in Echtzeit übersetzen mussten.


Asta arbeitet als Dolmetscherin im Kurhotel »Palace« in Mondorf-les-Bains, wo die US-Armee gefangengenommene Nazi-Größen interniert. Am 20. Mai 1945 reist ein neuer Gast an. Er bringt 16 Koffer, eine rote Hutschachtel und seinen Kammerdiener mit. Es ist Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Hitlers designierter Nachfolger. Asta übersetzt bei den Verhören, reist dann mit nach Nürnberg zu den Prozessen und wird jeden Tag im Gerichtssaal anwesend sein, die abscheulichsten Dinge zu hören bekommen und sie zudem ins Englische übertragen müssen. Umso empfänglicher ist sie für Leonhard, ein junger, sensibler Mann, der ihr sanft den Hof macht. Doch seine Vergangenheit ist undurchsichtig und er stellt verdächtig viele Fragen zu den Prozessen (Verlagsinfo) 


Titus Müller zeichnet ein erschütternd realistisches Bild des Deutschlands nach dem Krieg: Trümmerlandschaften, in denen Frauen und Kinder verzweifelt nach Überresten suchen, um auf dem Schwarzmarkt ein Überleben zu sichern. Die Überlebenden sind gebrochen, desillusioniert, ihre Zukunft düster. Sie haben Ehemänner, Brüder, Kinder verloren – auf den Schlachtfeldern Europas oder in den höllischen Bombennächten. Ihr Zuhause, ihre Zuversicht, ihr Glaube an einen „Führer“ sind zerbrochen. Sie fühlen sich betrogen, verlassen, gedemütigt – die glorreiche Zukunft, die ihnen einst prophezeit wurde, ist in Asche zerfallen.


Der Autor lässt uns teilhaben an den Sorgen und Ängsten der Menschen, die in den Ruinen von der Hand in den Mund leben. Er erzählt von heimkehrenden Kriegsgefangenen, die verzweifelt sind und sich nie wieder von den Schatten des Tötens und Sterbens lösen können. Müllers Recherchen sind beängstigend präzise, wenn er die Aussagen und Wortmeldungen der Kriegsgefangenen im Kreis Hermann Görings interpretiert. Alle plädierten auf „Nicht schuldig“, sahen sich als Opfer, als Befehlsempfänger, und beschuldigten sich gegenseitig.


In „Die Dolmetscherin“ wird Hermann Göring zum Sinnbild der Angeklagten: menschenverachtend, polarisierend, psychopathisch, selbstverliebt – eine realistische Aufarbeitung des Verbrechers, die unter die Haut geht. Müller beleuchtet zahlreiche historische Nebenfiguren und erschafft ein facettenreiches Panorama dieser dunklen Zeit.


Trotz der objektiven Betrachtung des Romans bleibt ein kritischer Punkt: die Plausibilität der Dolmetscherin Asta. Ihre Figur wirkt überzogen, mitunter völlig unrealistisch, und es fehlt ihr an menschlicher Tiefe. Sie erscheint eindimensional und unglaubwürdig. Eine Liebesgeschichte, die eine Prise Dramatik und Emotionalität in die Erzählstruktur bringt, ist zwar sympathisch und gut integriert, kann aber die Schwäche der Hauptfigur nicht ganz ausgleichen.


Dennoch ist dieser Roman als thematischer Auftakt großartig. Er fängt die Kernaussagen der Angeklagten ein und spiegelt die beklemmende Atmosphäre im Gerichtssaal wieder. Besonders gelungen ist die Darstellung der „Zerrissenheit“ der Besiegten, ihrer hohlen Entschuldigungen, des fehlenden Wissens und der fehlenden Reue. Ein moralischer und ethischer Kompass scheint bei diesen Menschen deinstalliert worden zu sein. Auch die Interessen und Motivationen der Siegermächte werden thematisiert, ebenso die provokante Frage, ob die Bombardierung der Alliierten nicht auch ein Kriegsverbrechen war – eine philosophisch und politisch tiefgründige Frage.


Fazit:

 Ein wichtiges Buch, das auf eindringliche Weise zeigt, dass Gerechtigkeit ihren Weg findet, nicht nur im Gerichtssaal. Titus Müller versteht es meisterhaft, emotionalen Geschichtsunterricht zu erteilen, dem man keine einzige Stunde missen möchte. Ein tief berührendes Werk, das lange nachwirkt und zum Nachdenken anregt.


Michael Sterzik